Decentralized Finance: Disruptive Technologie oder Marketing-Story?
Worum es bei „Decentralized Finance“ (DeFi) geht und was es mit Joseph Schumpeters Konzept der schöpferischen Zerstörung gemein hat, erklärt Dr. Ernst Konrad, Geschäftsführer bei Eyb & Wallwitz.
Ob Bitcoins, Blockchains oder der Digitale Euro – die Finanzbranche befindet sich derzeit in einem rapiden Wandel. Dennoch gehen viele davon aus, dass die eigentliche Disruption noch bevorsteht. „Wachstum ist ein Prozess schöpferischer Zerstörung", lautet die zentrale These des österreichischen Ökonomen Joseph Schumpeter. Ein Gedanke, der bei seiner erstmaligen Verbreitung Anfang des 20. Jahrhunderts für viel Kontroverse sorgte. Denn statt permanenter Zerstörung und dynamischer Selbsterneuerung nahm die Ökonomie damals an, dass Märkte langfristig zu stabilen Gleichgewichten und statischen Idealzuständen tendieren.
Invention und Imitation
Doch diese Vorstellung von der Marktwirtschaft als harmonischem Ausgleichsmechanismus ist heute passé, Schumpeters Konzept der schöpferischen Zerstörung dagegen weit verbreitet – in der Ökonomie wie im Marketing. "So findet sich mittlerweile kaum eine technologische Neuheit, die von ihren Entwicklern nicht als „Innovation“ gefeiert wird. Ganz vorne mit dabei: Sogenannte Fintechs, die ihre Kundschaft mit den neusten Trading-Apps und Krypto-Wallets versorgen und dabei gerne von der Digitalisierung und Dezentralität der Finanzbranche sprechen – kurz DeFi. Damit gemeint ist in erster Linie die Distributed-Ledger-Technologie und mögliche Anwendungen wie Smart Contracts oder Security Token. Doch was genau ist an denen nun so innovativ?", fragt sich Dr. Ernst Konrad, Geschäftsführer bei Eyb & Wallwitz.
Laut Schumpeter ist eine Innovation eine technische Invention (Neukombination von Produktionsfaktoren), die sich – angetrieben durch die Risikobereitschaft und Schöpfungskraft eines dynamischen Unternehmens – im Wettbewerb gegen andere Marktteilnehmer und ihre Ideen durchsetzt. Dabei bedient sie den Markt auf eine so revolutionäre Art und Weise, dass bestehende Geschäftsmodelle innerhalb kürzester Zeit zerstört, Monopole gestürzt und verkrustete Marktstrukturen aufgebrochen werden. Ein Technologiesprung, der die Konkurrenz dazu zwingt, den Ansatz des Innovators zu imitieren, um nicht völlig aus dem Wettbewerb auszuscheiden.
Talent allein reicht nicht
Im Zuge der Durchsetzung einer Innovation kommt es deshalb zu einem wirtschaftlichen Abschwung, auf den kurz darauf eine Phase neuen Wachstums folgt. Oder, um mit Schumpeter zu sprechen: ein neuer Konjunkturzyklus. Als Beispiele hierfür können die Erfindung und kommerzielle Durchsetzung des Buchdrucks, der Dampfmaschine oder der Elektrizität genannt werden. Doch wie steht es um den Trend zum Decentralized Finance:
Bringt DeFi tatsächlich das Potential einer derartigen Innovation mit?
Blickt man auf die Grundlagen der DeFi-Technologie, muss die Antwort eindeutig „ja“ lauten. Der Grund: Durch die Distributed-Ledger-Technologie erhalten alle Teilnehmer eines Netzwerks direkten Zugang zu einer geteilten Infrastruktur ohne Zentralinstanzen, wodurch zahlreiche Intermediäre überflüssig würden. Darüber hinaus ermöglicht die Technologie auch eine vollständige Automatisierung des Handels und der Emission von Wertpapieren. Eine Anwendung hierfür sind sogenannte Smart Contracts, das sind digitalisierte Verträge, die über automatisierte Wenn-Dann-Funktionen auf der Blockchain abwickelt werden.
Viele DeFi-Anwendungen finden bisher kaum kommerzielle Anwendung
Das Potential von Smart Contracts und Security Token zur Einsparung von Zeit, Kosten und Arbeitsaufwand ist enorm. Dennoch zeigt sich bei kritischer Betrachtung, dass viele der DeFi-Anwendungen bisher kaum kommerzielle Anwendung finden. Vergleicht man zum Beispiel die Marktkapitalisierung des MSCI World von über 57 Billionen US-Dollar (28. Februar 2022) mit der Marktkapitalisierung aller Krypto-Assets von 1,84 Billionen US-Dollar (9. März 2022), so dürfte klar sein, dass der Trend von einer breiten Durchsetzung am Markt noch weit entfernt ist. Stand jetzt, handelt es sich beim Krypto-Hype also eher um eine vielversprechende Invention, deren Durchsetzung am Markt noch auf sich warten lässt. Was ihr fehlt? Ein dynamischer Unternehmer mit ausreichend Risikobereitschaft, Kapital und einem leicht skalierbaren Geschäftsmodell.
Die Bank: Ein Fenster zur Zukunft
Worin dieses Geschäftsmodell besteht, lässt sich heute noch nicht sagen. Allerdings ist davon auszugehen, dass es nicht die etablierten Player der Finanzbranche sind, die es in den Markt bringen werden. Zu groß ist ihr Anreiz, die eigene Marktstellung zu behaupten und weiter von ihren Monopolrenditen zu profitieren. Entscheidend für die Durchsetzung der Technologie werden deshalb die Fintechs sein. Da sie allerdings über deutlich weniger finanzielle Mittel verfügen, müssen sie sich auf einen Markt konzentrieren, in dem die technologischen Vorteile von Smart Contracts und Co. voll zur Geltung kommen. Um hier keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Der Markt für Kryptowährungen gehört hier angesichts seiner zahlreichen Nachteile gegenüber zentralisierten Staatswährungen nicht dazu.
Bringen Fintechs die Durchsetzung der Technologie?
Ein Geschäftsfeld, auf dem die Erfolgsaussichten von Fintechs dagegen günstiger stehen dürften, ist der Bankensektor. So stellen Banken eine zentrale Anlaufstelle für einfache Verwahrungs- und Zahlungsdienstleistungen dar, die noch immer viel manuelle Arbeit nötig machen. Eine Arbeit, die sich mittels Blockchain problemlos automatisieren ließe – schnell, günstig und ohne unnötige Intermediäre. Anders sieht die Situation dagegen bei Asset Managern, Versicherungen, Maklern oder Handelsplätzen aus, da sie Nutzern durch ihre Beratung und Vermittlung einen Mehrwert bieten, der über die bloße Bereitstellung einer sicheren Infrastruktur hinaus geht. Im Wettbewerb mit diesen Intermediären müssten Fintechs deshalb Kompetenzen aufbauen, die von den etablierten Unternehmen vermutlich besser beherrscht werden.
Fazit
Investoren, die auf wachstumsstarke Innovatoren setzen, sollten deshalb eher die Bankenbranche im Auge behalten, meint Dr. Konrad. Die Wahrscheinlichkeit, dass aus der DeFi-Invention künftig eine zerstörerisch schöpferische Innovation erwächst, scheint in diesem Umfeld am größten. (kb)