Chipindustrie: Strategische Interessen bedrohen den Freihandel
17 Milliarden Euro für eine Chipfabrik in Magdeburg – für die digitale Souveränität in Europa ein wichtiger Zuschlag. Für den freien Handel dagegen nur eine „Second-Best-Lösung“, die aufgrund der politischen Konflikte alternativlos ist, so Dr. Ernst Konrad, Lead Portfolio Manager bei Eyb & Wallwitz.

© Eyb & Wallwitz
Ob Smartphones, Autos oder Supercomputer – ohne Mikrochips geht im Zeitalter der Digitalisierung nichts. Kommt es bei den kleinen Hightech-Bauteilen zu Lieferschwierigkeiten, stottert die Wirtschaft, drohen Milliardenverluste und bleiben die Regale im Einzelhandel leer. "Für Großkonzerne und industrialisierte Gesellschaften ist die Versorgung mit den kostbaren Halbleitern deshalb essenziell. Doch kleinste Unterbrechungen reichen aus, um einen gefährlichen Bullwhip-Effekt in der Wertschöpfungskette auszulösen. Von globalen Pandemien oder Handelskriegen ganz zu schweigen. Welche Konsequenzen das für die nachgelagerten Industrien haben kann, hat das vergangene Jahr eindrucksvoll gezeigt", sagt Dr. Ernst Konrad, Lead Portfolio Manager bei Eyb & Wallwitz.
Kompliziert und komplex
So sollen etwa in der Autoindustrie weltweit rund elf Millionen Einheiten weniger vom Band gelaufen sein als ursprünglich geplant, wie Boston Consulting schätzt. Neben Autobauern, die mittlerweile zu den größten Abnehmern von Mikrochips zählen, hat sich der Halbleitermangel allerdings auch bei Elektro-Herstellern bemerkbar gemacht. Demnach haben allein bei Apple etwa zehn Millionen iPhones ihre Fabriken in 2021 nicht in Richtung Kunde verlassen können. Die daraus resultierenden Umsatzeinbußen sind enorm, zumal auch die Preise für Halbleitermaterialien aufgrund der hohen Nachfrage immer teurer werden. Der Grund für die Lieferengpässe liege vor allem in der Komplexität und Fertigungstiefe der kleinen Mikrochips, so Dr. Konrad weiter. "Über die Jahre haben sie zu einer sehr hohen Spezialisierung und globalen Vernetzung von Produktionsstandorten geführt – auch über nationale Grenzen hinweg."
Multikausale Versorgungsunsicherheit
Bei der politischen Großwetterlage des 21. Jahrhunderts ist dies eine vertrackte Situation, wobei vor allem der Handelskonflikt zwischen China und den USA der Industrie zu schaffen macht. Der Grund: Als größte Volkswirtschaften der Welt decken beide Länder wichtige Teile der Wertschöpfungskette ab, belegen sich allerdings gleichzeitig mit einem ausgeklügelten System von Handelsschranken und Importzöllen. Gleichzeitig erhebt China, das selbst erst vor einigen Jahren voll in die Branche eingestiegen ist, immer wieder territoriale Ansprüche gegenüber Taiwan – der internationalen Hochburg in Sachen Chipfertigung. Zudem schwelt auch zwischen Japan und Südkorea ein Konflikt. Aufgrund Japans wichtiger Rolle bei der Fertigung von Wafer-Plättchen und Südkoreas Know-how im Bereich der KI-Chips ein potentieller Krisenherd, der die Versorgungsunsicherheit weiter erhöht.
Rückzug in den Binnenmarkt
Von dieser Unisicherheit betroffen ist vor allem Europa. Dr. Konrad: "Denn auch wenn der Kontinent zwar einige Fabriken für die Fertigung von Autochips beheimatet, ist er dennoch in hohem Maße von importierten Vorleistungen abhängig. Eine Ausnahme bildet hier allein der niederländische Maschinenbauer ASML, der im Bereich der Chipmaschinen (7-Nanometer-Chips) als Quasi-Monopolist gilt. Für Europas Unternehmen und Politiker ist deshalb klar: Die Abhängigkeit von Importen aus fernen Ländern soll künftig ein Ende haben. Zu hoch ist der Preis für etwaige Ausfälle und zu groß die strategische Bedeutung bei politischen Eskalationen."
Chip-Souveränität der EU mittelfristig angestrebt
Auf EU-Ebene hat Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen deshalb bereits gemeinsam mit Binnenmarktkommissar Thierry Breton aufs Gaspedal gedrückt und wichtige Weichen für die Chip-Souveränität der EU gestellt. "Neben dem European Chips Act samt Subventionsbudget in Höhe von 43 Milliarden Euro ist dabei auch der ein oder andere Deal mit führenden Chip-Herstellern gemacht worden – ob Boschs Rekordinvestition im Silicon Saxony, Infineons neuer Standort im österreichischen Villach oder die Standortentscheidung von Intel in Magdeburg", weiß Dr. Konrad.
Hoffnungsschimmer für die Industrie, aber Hemmnis für den internationalen Freihandel
Langfristig habe sich die EU dabei nicht weniger als die sogenannte End-to-End-Lösung zum Ziel gesetzt, so Konrad weiter. "Für die Industrie ist das ein Hoffnungsschimmer in Sachen Versorgungssicherheit. Für den internationalen Freihandel dagegen ein klarer Rückschritt, da staatliche Eingriffe letztlich immer zu einer Aushebelung von komparativen Kostenvorteilen führen. Statt eines fairen Wettbewerbs um die besten Ideen und günstigsten Preise ist deshalb in Zukunft immer stärker mit der Subventionierung nationaler Champions zu rechnen – ob in den Heimatmärkten Europas, Chinas, Japans, der USA oder Südkoreas. Nach außen trägt die digitale Souveränität dagegen zum Aufbau eines protektionistischen Handelsregimes bei, das bei politischen Reibungen sofort in einer Eskalationsspirale der Sanktionen münden könnte." Ein Problem, das der österreichische Ökonom Joseph Schumpeter bereits vor über hundert Jahren als gefährliche Innovations-, Wachstums und Wohlstandsbremse beschrieben hat. Denn wenn Staaten ihre Schutzschirme über einzelnen Unternehmen aufspannen, kommt es zur Verkrustung und Monopolbildung und damit zu gesamtwirtschaftlichen Renteneinbußen. Doch was wäre hier die Alternative?
Second Best bleibt erste Wahl
Folgt man der Standardlehre liberaler Denker, so scheint die Lösung klar: Handelsschranken abbauen und ein „level playing field“ einziehen, um für mehr Innovationskraft und Wettbewerb zu sorgen. Doch was in der Theorie so einfach klingen mag, ist in der politischen Praxis derzeit schlicht nicht möglich. Anders gesagt: Realpolitik sticht Wirtschaftstheorie – eine Einsicht, die auch der Pragmatiker Joseph Schumpeter so unterschrieben hätte, wenngleich er die Politik zu größtmöglicher Vorsicht bei Rent Seeking und Protektionismus ermahnt hätte. Denn ohne ein Mindestmaß an Wettbewerb im Binnenmarkt ist selbst eine hochsubventionierte Industrie im internationalen Vergleich nicht konkurrenzfähig. Wer seine nationalen Champions schützen will, sollte deshalb nicht mehr staatliche Eingriffe vornehmen als nötig. Eine „Second-Best-Lösung“, die angesichts der geopolitischen Sachzwänge allerdings die erste Wahl in der Praxis darstellt.
Für Anleger gilt, sich mit den politischen Vorgaben zu arrangieren
Unter Umständen kann das sogar gewisse Vorteile mit sich bringen, weiß Konrad: "Denn nationale Champions zeichnen sich häufig durch überdurchschnittliche Monopolrenditen und einen starken Patentschutz aus. Gleichzeitig können staatlich protegierte „infant industries“ auch zahlreiche Innovatoren hervorbringen, die in ihren Heimatmärkten geschützt aufwachsen und starke Kurszuwächse realisieren können - zumindest solange, als die Handelsschranken bestehen bleiben." (kb)