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3/2024 | Theorie & Praxis

»Unser Währungssystem steht vor dem Ende«

Der Finanzhistoriker Russell Napier hat bereits 2007 ein gutes Gespür für ­Umwälzungen im globalen Wirtschaftsgefüge bewiesen. Für die kommenden zwei Jahre erwartet er eine Neuordnung des weltweiten Währungssystems.

© BRENDAN MACNEILL

Russell Napier hat als Bibliothekar vielleicht die ­Rolle seines Lebens gefunden. In der „Library of Mistakes“, gegründet im schottischen Edinburgh, ausgestattet mit einer Dependance in der Schweiz, konkret Lausanne, hat der Finanzhistoriker einen Ort zum Austausch und zum Nachdenken über ökonomische Fehler der Vergangenheit geschaffen – mit der strikten Vorgabe, nicht nur über diese Fehler zu meditieren, sondern Schlüsse für die Zukunft zu ziehen und solcherart den einen oder anderen künftigen Irrweg zu vermeiden.

Tendenziell hat Napier immer wieder in die richtige Richtung gewiesen. „Anatomy of the Bear“, ein Analyse von ­Finanzkrisen der Vergangenheit mit entsprechender Warnung, erschien beispielsweise 2007. Insgesamt hält sich der Schotte bei kurzfristigen Warnungen und spezifisch datumsbezogenen Einschätzungen jedoch zurück – umso ungewöhnlicher, dass sich Napier im Gespräch mit Institutional Money aus der Deckung wagt und präzise Prognosen für ­einen fundamentalen Wandel in unserem gegenwärtigen globalen Währungssystem anstellt. Innerhalb von zwei Jahren soll es so weit sein – spätestens dann sollte es für China laut dem ausgewiesenen Asienexperten unmöglich werden, die Bindung des chinesischen Renminbi an einen vom US-Dollar dominierten Währungskorb aufrechtzuerhalten. Das ­gegenwärtige monolithische Währungssystem wird ausein­anderbrechen, eine neue Weltwirtschafts-Ära wird beginnen.

Herr Napier, steigen wir ohne Umschweife ein: Sie gehen davon aus, dass das globale Währungssystem vor seinem Ende steht?

Russell Napier: Ja, absolut. Ich argumentiere sehr stark, dass das aktuelle globale Währungssystem 1994 mit der Abwertung des Renminbi begann, als China seine Währung an den US-Dollar koppelte. Grob gesagt hat bislang kein ­globales Währungssystem länger als 30 Jahre gehalten. Der Kern des aktuellen Systems ist Chinas De-facto-Bindung an den US-Dollar beziehungsweise an den vom Dollar dominierten Währungskorb. Und ich denke, das ist es, was sich ändern wird: Das wird nicht so weitergehen, und das wiederum kommt einer globalen Umwälzung des globalen Währungssystems gleich und läuft auf die Spaltung in weltweit zwei Währungssysteme hinaus.

Das hatten wir schon einmal, oder?

Russell Napier: Tatsächlich hatten wir im klassischen Kalten Krieg zwei Währungssysteme. Das spielte in der alten Sowjetunion aber keine so große Rolle, weil sie keine so ­große Wirtschaft war. Wenn wir jetzt von zwei Währungssystemen reden, ist das hingegen von großer Bedeutung, weil China die zweitgrößte Wirtschaft der Welt ist. Und es könnte andere geben, die sich seinem Währungssystem ­anschließen.

Aber warum jetzt? Wieso so plötzlich?

Russell Napier: Ich erwarte das schon seit einiger Zeit. Ich denke, es steht unmittelbar bevor, um zu verhindern, dass China auf eine Deflation zusteuert. Um eine solche zu vermeiden, braucht es geldpolitische Unabhängigkeit. Um diese zu erlangen, muss China wiederum aufhören, den Wechselkurs anzuvisieren, und stattdessen Preis und Menge des Geldes im Fokus haben. Denn alle Daten aus China zeigen, dass sich die ökonomische Situation dort immer weiter verschlechtert. Nehmen Sie zum Vergleich Neuseeland: Das winzige Land lässt seinen Wechselkurs frei schwanken und visiert Preis und Menge des Geldes an. Warum sollte die zweitgrößte Wirtschaft der Welt nicht dasselbe tun? Und wenn das passiert, dann erleben wir das Ende des alten ­globalen Währungssystems.

Experimente mit Dollar-Koppelungen und Dollar-Entkoppelungen gehen in der Regel nicht so gut aus – siehe Argentinien. Das wird man in Peking auch beobachtet haben?

Russell Napier: Die Ausgangslage ist unterschiedlich. Die Volksrepublik befindet sich in der glücklichen Position, nicht mit dem völligen Chaos Argentiniens zu beginnen. Sie brauchen also keine so radikale Lösung wie Argentinien. Aber lassen Sie es mich vielleicht anders ausdrücken: Stellen Sie sich vor, Sie und ich befinden uns in einem kalten Krieg miteinander, und ich binde meine Währung an Ihre. Das ­ergibt doch einfach keinen Sinn. China ist die zweitgrößte Wirtschaft der Welt und sollte zwangsläufig eine unabhängige Geldpolitik haben. Wenn man sich in einem kalten Krieg befindet, gibt man seinem Gegner einen enormen Hebel, wenn man seine Währung an die des Gegners ­binden. Ich glaube also, dass diese Politik ausgedient hat. Ich denke, unsere Kinder und Enkel werden eines Tages überrascht sein, wenn sie hören, dass China angesichts seiner Größe und Macht jemals seine Währung an den US-Dollar ­gebunden hat.

Sie berücksichtigen in Ihren Analysen auch die persönlichen ­Motivationen der Akteure. Xi Jinping ist offenbar an Stabilität interessiert. Eine Auflösung des Währungsregimes würde dem ­entgegenwirken, nicht wahr?

Russell Napier: Nein, nicht wirklich. Aber die Umstände sind tatsächlich sehr interessant. Wir hatten dieses Problem schon oft in der Geschichte. Gehen wir zurück ins Vereinigte Königreich 1992, als es versuchte, seinen Wechselkurs ­innerhalb des Wechselkursmechanismus zu halten. Der Schatzkanzler kommt eines Morgens in sein Büro, und plötzlich steigen die Zinsen, weil die Zinsen eben steigen müssen, um diesen Wechselkurs zu verteidigen. Und man könnte die Zinsen auf jedes beliebige Niveau anheben, und irgendwann würden diese Zinsanhebungen in der Theorie auch funktio­nieren. Aber der Schatzkanzler sieht das ganze Bild und muss dem Premier erklären: „Natürlich können wir das tun. Aber bei einem derartigen Zinsniveau werden wir eine ­massive Deflation haben. Wir werden eine riesige Rezession haben. Viele Menschen werden bankrottgehen. Wenn wir wiedergewählt werden wollen, müssen wir den Wechselkursmechanismus verlassen und den Währungskurs nicht mehr anvisieren.“ Die Analogie greift natürlich in gewisser Weise zu kurz, da Xi Jinping keinen Wahlkampf bestreiten muss. Aber es gibt einen Zeitpunkt – selbst für ­einen Diktator –, an dem Deflation, Rezession und eine ­hohe Arbeitslosigkeit die politische Stabilität bedrohen.

Vorausgesetzt, es gibt keinen heißen Krieg, keine Katastrophe, aber auch vorausgesetzt, dass diese Währungsbindung aufgelöst wird und wir sozusagen … Ich weiß, Sie mögen keine Extrapolationen – aber lassen Sie uns das mal für die nächsten paar Jahre tun. ­Sagen wir also, in zwei Jahren wird diese Bindung aufgelöst. Was wären die unmittelbaren Folgen für Europa?

Russell Napier: Ich mache normalerweise keine kurzfristigen Prognosen, aber ich denke, es ist richtig zu sagen, dass dies in zwei Jahren passieren muss, weil China so nicht weitermachen kann. Ich denke also, es ist korrekt, wenn man sagt, dass der chinesische Renminbi insgesamt sinken wird, weil Peking die Druckmaschinen anwerfen wird. Jetzt könnte man natürlich denken, dass eine große Welle billiger chinesischer Produkte in unsere Richtung fließen wird. Das wird aber nicht passieren, weil Drittstaaten die Zölle anheben werden, um den neuen Währungskurs zu konterkarieren.

Zollanhebungen – das klingt nicht unvertraut …

Russell Napier: Korrekt. Allerorten werden jetzt schon die Zölle erhöht, um China weniger wettbewerbsfähig zu machen. Und das wird so weitergehen. Die Abwertung des Yuan wird wie ein Startschuss für die nächste Phase des ­kalten Krieges wirken. Diese Phase wird aggressiver sein und ironischerweise auf mehr Inflation hinauslaufen, weil es so viele Dinge gibt, die wir derzeit aus China beziehen, die wir dann aber einfach nicht mehr kaufen werden, weil wir uns von Chinas Angebot abkapseln. Und in einem solchen ­Szenario landen wir sehr schnell beim Thema Notfallfinanzierung und Finanzrepression.

Sie meinen Maßnahmen, die Staaten in der Vergangenheit in Kriegsfällen gesetzt haben, also beispielsweise die Ausgabe und der verpflichtende Kauf von Kriegsanleihen …?

Russell Napier: Ja, und das mit all seinen Auswirkungen – und übrigens nicht nur aus dem schwelenden China-Konflikt heraus. Ich denke da beispielsweise auch an die Klimakrise und soziale Notstände. Vor diesem Hintergrund muss man sich daran erinnern, dass es weltweit einen Sparpool gibt, den wir als Kapital bezeichnen. Die Regierungen werden in Krisenzeiten stärker in die Verteilung dieses Kapitals eingreifen und bestimmen, wohin es fließen soll. Unsere ­Ersparnisse werden also einer stärkeren staatlichen Kontrolle unterliegen. Das wird in einer Industriepolitik, wie sie beispielsweise schon von Präsident Macron aktiv diskutiert wird, zunächst vor allem für den Besitz von Staatsanleihen gelten. Der Macron’sche Ansatz geht aber über den Kauf von Staatsanleihen hinaus. Es läuft letztendlich alles auf eine Finanzierung bestimmter Wirtschaftszweige hinaus. Die Geldpolitik, die Ende des vergangenen Jahrhunderts von den Regierungen an unabhängige Zentralbanken abgegeben wurde, wird zu den Regierungen zurückkehren, die dann die oberste Instanz für die Geldpolitik sein werden – also für Preis und Menge des Geldes. Ein kalter Krieg mit China wird diese Entwicklung beschleunigen. Diese Art von finanzieller Repression wurde bisher aber noch nie erfolgreich ohne eine Form von Kapitalverkehrskontrollen zur Einschränkung des freien Kapitalverkehrs durchgeführt. Das wird also auch kommen.

Sie schießen sich recht spezifisch auf Präsident Macron ein …

Russell Napier: Ich denke, es lohnt sich wirklich, die Rede von Präsident Macron vom 20. April an der Sorbonne zu ­lesen, in der er klar ausführt, was aus seiner Sicht politisch unternommen werden muss. Er skizziert – ich glaube, es sind fünf – Wirtschaftssektoren, in denen die Regierung den Privatsektor manipulieren oder zwingen muss, zu finanzieren. Mitten in dieser Rede gibt es diese Aussage, in der er sagt, es sei absurd, dass französische Sparer die amerikanische Regierung finanzieren. Das ist Kapitalnationalismus.

Das bedeutet, dass wir bereits in diese neue Ära der Finanzrepression eingetreten sind?

Russell Napier: Nein, so weit sind wir noch nicht. Wir sind noch nicht in diesem Stadium. Aber der Grund, aus dem ich fürchte, dass wir genau auf diese Politik zusteuern, liegt in unser aller Erfolglosigkeit: Wir waren im Bereich der ­erneuerbaren Energien erfolglos. Wir waren im Bereich ­unserer heißen Kriege nicht erfolgreich. Das muss alles auf eine ganz andere Ebene gebracht werden.

Ich verstehe Ihren Standpunkt, aber man könnte argumentieren, dass es für Regierungen eigentlich bequemer ist, die gesamte Verantwortung für Kapitalkontrollen und dergleichen auf die Zentralbanken abzuwälzen. So können sie sagen: „Okay, das ist die Zentralbank, nicht wir“, was in der Vergangenheit ja auch geschehen ist. Auch in der Zeit nach der großen Finanzkrise wurde vieles den Zentralbanken übertragen, und die Regierungen schienen ­damit nicht unglücklich zu sein …

Russell Napier: Wenn Präsident Macron öffentlich sagt, wir sind zurück im Geschäft der Industriepolitik, wird er diese Vorhaben finanzieren müssen. Und er wird sie über das Bankensystem finanzieren. Die Staatsschuldenquote Frankreichs liegt bei etwa 105 Prozent. Frankreich braucht also ­Finanzierung. Wenn man die Banken zwingt oder ermutigt, Kredite dafür zu vergeben, wie wir sie ermutigt haben, für Covid Kredite zu vergeben, wird man ein viel höheres Wachstum der Geldmenge bekommen.

Was bedeutet das konkret für die Rolle der Notenbanken?

Russell Napier: Die Quintessenz ist, dass derjenige, der die ­Bilanzen der Geschäftsbanken kontrolliert, in Wirklichkeit die Währungsbehörde ist. Der Status quo ist, dass die Zentralbanken versuchen, durch Zinsanpassungen das Wachstum der Bilanzen der Geschäftsbanken zu kontrollieren, aber sie haben dabei einen wirklich schlechten Job gemacht. Meiner Ansicht nach werden also die Regierungen diese Rolle übernehmen. Und sobald das geschieht, sind sie inhärent im Geschäft der Geldpolitik. Die beiden Dinge sind ­also miteinander verbunden. Die Regierungen brauchen ­eine höhere Inflation, sie brauchen ein höheres nominales BIP-Wachstum. Aber um die Industriepolitik zu finanzieren, brauchen sie vor allem mehr Kreditwachstum der Banken. Wenn man diese Dinge zusammenbringt, bleibt kein Raum für die Zentralbank, weil die Regierung diese Kredite aus dem Bankensystem steuern wird. Die Regierungen werden schlicht nicht wollen, dass die Zentralbanken das machen.

Der Staat wird also insgesamt härter vorgehen?

Russell Napier: Ja. „Friend-Shoring“ entspricht ja bereits dieser Weltanschauung. Aber es geht darüber hinaus. Es gibt also einen Deglobalisierungs- oder China-Notstand. Aber es gibt auch einen Klimanotstand. Es gibt in Europa offensichtlich einen Verteidigungs­notstand, aber ich denke, dass es diesen auch im Pazifik gibt. Manche würden aufgrund des Aufstiegs des Populismus argumentieren, dass es auch einen ­Ungleichheitsnotstand gibt.

Aber wie spielt sich das Szenario der ökonomischen Repression aus Ihrer Sicht ab?

Russell Napier: Wenn die Regierungen einen Plan gefasst ­haben, wie sie diese Notstände beseitigen wollen, und ihre Schuldenquote insgesamt auf sehr, sehr hohem Niveau liegt, ist das der Moment, in dem die Regierungen auf den pri­vaten Sektor schielen und beginnen, das Kapital und die ­Ersparnisse des privaten Sektors zu mobilisieren. Ich denke, das Wort „Notstand“ ist wirklich wichtig. Wir reden hier nicht nur davon, dass Regierungen sagen, sie denken, man sollte dies oder jenes unternehmen. Nein, sie werden de ­facto einen Notstand ausrufen. Und sobald der Begriff ­Notstand gefallen ist, rechtfertigt das auch eine Notstands­finanzierung.

Staatliche Notstände sind staatsrechtlich und politisch in einer ­Demokratie sehr eng gefasst …

Russell Napier: Notstandsfinanzierung – also wenn etwa Bürger gezwungen werden, Staatsanleihen zu kaufen – passieren immer in Kriegszeiten. So wie jetzt. Das hört man nicht gern, aber wir befinden uns derzeit in einem Krieg. Wir ­befinden uns möglicherweise in mehr als einem Krieg. Wir befinden uns möglicherweise in drei Kriegen, resultierend aus den drei Notstandsszenarien. Die Politik versteht das ­zumindest so, und das ist die Motivation für die Regierungen, wieder in diese Notstandsökonomie einzusteigen.

Zum Abschluss:?Dieses Szenario der finanziellen Repression – was bedeutet das für die Eurozone, den Euro?

Russell Napier: Den Machtfluss von einer Notenbank zu ­einer Regierung zu kanalisieren, ist in Amerika einfach. Ebenso in Großbritannien. Aber wie soll das in der Euro­zone gelingen, wo der EZB 19 Einzelstaaten gegenüberstehen? Man hätte 19 Regierungen, die entscheiden, wie viel Bankkreditwachstum und Geldmengenwachstum sie wollen. 19 Regierungen, die ihre eigene Industriepolitik bestimmen. 19 Regierungen, die ihre eigene Zinskurve bestimmen, indem sie die Ersparnisse der eigenen Bevölkerung manipulieren. Das kann nicht funktionieren.

Und was würde passieren, wenn Macron tatsächlich ausschert und allein den Weg der finanziellen Repression geht?

Russell Napier: Das private Kapital würde dramatisch darauf reagieren. Es gäbe eine Flut von Euros Richtung Deutschland, nicht nur in der Art, wie wir es durch die Target-2-Salden gesehen haben. Tatsächlich würden Einzelpersonen ihre Euros nach Deutschland und anderswohin bringen. Letztendlich würden wir bei einem Griechenland-Szenario landen. Es käme zu einem Zusammenbruch des Systems, weil man irgendeine Form von Kontrolle über die Kapitalflüsse einführen müsste. Und das ist eine der vier Freiheiten. Man könnte Frankreich also nicht alle vier Freiheiten lassen, wenn Macron allein vorginge.

Wir danken für das Gespräch!

Hans Weitmayr

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