Systematisch benachteiligt
Bisher konzentrierten sich Studien zu passiven Investments darauf, welchen Einfluss sie auf den Sekundärmarkt haben. Eine neue Untersuchung zeigt nun, dass ETFs bei Corporate Bonds auch am Primärmarkt teilnehmen. Allerdings werden sie dabei benachteiligt.
Rund zehn Jahre nach dem ersten Aktien-ETF wurden am 20. November 2000 in Kanada die ersten beiden Anleihen-ETFs der Welt lanciert. Es dauerte einige Jahre, bis sie im Zuge der globalen Finanzkrise ab dem Jahr 2008 als tragfähige Produkte akzeptiert und auf breiter Basis von Investoren nachgefragt wurden. Einen Durchbruch erlebten Bond-ETFs, als sie im Zuge des Corona-Crashs im Frühjahr 2020 ihren bislang größten Stresstest bestanden. Wie eine Studie des Investment Company Institute offenbarte, dienten sie während der Turbulenzen als Preisfindungsinstrument. Zu diesem Zeitpunkt war es am Markt schwierig, bei einzelnen Anleihen überhaupt Liquidität zu finden.
Ein komplexer Markt
Die große Herausforderung besteht darin, dass es am Anleihenmarkt unzählige Emittenten aus verschiedenen Kategorien gibt, die Bonds mit ganz unterschiedlichen Spezifikationen ausgeben. Schätzungen zufolge gibt es allein in den USA mehr als 500.000 verschiedene Corporate Bonds, von denen die meisten kaum aktiv gehandelt werden. Der Markt ist also komplex. Doch die zunehmende Bedeutung von Anleihen-ETFs und vor allem das damit verbundene Ökosystem haben dazu beigetragen, die Liquidität in den vergangenen Jahren erheblich zu verbessern.
Trotzdem machen Anleihen-ETFs immer noch nur einen Bruchteil des gesamten Marktes aus. Nach Angaben von Morningstar waren Anfang des Jahres 2024 weltweit mehr als zwei Billionen US-Dollar darin investiert. Das klingt zunächst viel. Allerdings sind das nur 1,5 Prozent des 140 Billionen US-Dollar schweren globalen Bond-Marktes. Etwa ein Viertel davon sind Unternehmensanleihen, so das Centre for Economic Policy Research (33,6 Billionen US-Dollar Ende 2023).
Interessant ist aber nicht nur das ausstehende Volumen, sondern auch, in welchem Umfang Corporate Bonds neu emittiert werden. Laut SIFMA waren es allein in den USA im Jahr 2023 Unternehmensanleihen im Wert von 1,4 Billionen US-Dollar. Es wäre zu erwarten, dass ETFs in diesem Segment keine Rolle spielen. Schließlich sind neu ausgegebene Anleihen noch nicht in den abgebildeten Benchmarks enthalten. Zudem lässt sich eine Parallele zum Aktienmarkt ziehen. Auch dort beteiligen sich ETFs in aller Regel nicht an Börsengängen. Doch zumindest was Corporate Bonds angeht, liegt man mit dieser Erwartung daneben.
Überraschende Beteiligung
Tatsächlich spielen passive Anleger bei Unternehmensanleihen eine größere Rolle als bislang vermutet. Das geht aus dem Paper „Passive Investors in Primary Bond Markets“ von Caitlin D. Dannhauser (Villanova University, Department of Finance) und Michele H. Dathan (Board of Governors of the Federal Reserve System) hervor. Es ist die erste Studie, die Aktivitäten von ETFs auf dem Primärmarkt für Corporate Bonds untersucht. Dabei ist schon allein die Tatsache erstaunlich, dass passive Fonds dort überhaupt aktiv sind.
Die meisten Indizes haben klare Aufnahmeregeln, an denen sich Firmen für die Merkmale ihrer neu auszugebenden Anleihen orientieren können. Aufgenommen werden die Anleihen aber erst nach der Emission bei der nächsten Neugewichtung der Indizes. Deshalb sollte der Primärmarkt eigentlich irrelevant sein, wenn es darum geht, dem passiven Mandat ausdrücklich nachzukommen. Demnach würden ETFs mit dem Kauf emittierter Anleihen bis zum Zeitpunkt der Neugewichtung warten, um ihren Tracking Error zu minimieren.
Allerdings gibt es einen Unterschied zum Aktienmarkt, was die Liquidität angeht. Der Sekundärmarkt bei Corporate Bonds ist relativ illiquide. Das gilt vor allem für Anleihen, die schon länger am Markt sind. Einer Studie zufolge ist das Handelsvolumen typischer Unternehmensanleihen zwei Tage nach Emission mit mittleren 29 Transaktionen am Tag am höchsten und nimmt dann rapide ab („Dealer Behaviour and the Trading of Newly Issued Corporate Bonds“). Aus dieser Perspektive könnte es für passive Fonds durchaus interessant sein, dem zuvorzukommen und sich um Zuteilungen am Primärmarkt zu bemühen. Auch die Tatsache, dass die meisten Bond-ETFs ihre Benchmark nicht exakt, sondern nur repräsentativ abbilden, spricht dafür.
ETFs am Primärmarkt aktiv
Zunächst analysieren die Forscherinnen eine Stichprobe von 20 US-Corporate-Bond-ETFs, die tägliche Bestände melden, im Zeitraum von 2015 bis 2020. Die Aufnahmekriterien der zugrunde liegenden Indizes wie das Emissionsvolumen, die Ratingkategorie (Investment Grade oder High Yield) und die Restlaufzeit werden dabei berücksichtigt. Anhand dessen lässt sich abschätzen, welche Unternehmensanleihen die einzelnen ETFs wahrscheinlich kaufen. Die Stichprobe umfasst 7.089 Corporate Bonds, die für eine Indexaufnahme infrage kommen. Als Erstes stellen die Autorinnen fest, dass die ETFs tatsächlich Anleihen am Tag ihrer Emission halten, bevor diese in die Benchmark aufgenommen werden. Und das nicht zu knapp: Ganze 54 Prozent der Bonds, die innerhalb des ersten Laufzeitjahres in die ETFs aufgenommen werden, sind schon bei der Emission erstmals im Portfolio vertreten. Am Tag darauf folgen weitere elf Prozent. Allerdings gibt es erhebliche Unterschiede zwischen den einzelnen Fonds, was den Prozentsatz angeht, den sie am Emissionstag halten. Viele ETFs erwerben die Anleihen auch erst innerhalb von zwei Monaten.
Spannend ist natürlich die Frage, welche Renditen mit den Zuteilungen erzielt werden. Man könnte vermuten, dass passives Engagement belohnt wird, da es als beständig und berechenbar gilt, sodass ETFs eher attraktive Zuteilungen erhalten. Andererseits könnten sie aber genau deshalb schlechtere Zuteilungen bekommen, weil sie sich passiv verhalten.
Unterdurchschnittliche Performance
Die Ergebnisse sind eindeutig: ETFs weisen am Ausgabetag höhere Bestände an weniger attraktiven Emissionen auf. Diese erzielen am ersten Handelstag mehrheitlich niedrigere Renditen. Das bedeutet, dass ETFs weniger vom typischen Underpricing der Emissionen profitieren als andere Marktteilnehmer. Hinzu kommt, dass ETFs einen deutlich höheren Anteil an überteuerten Zuteilungen haben, die negative Ersttagsrenditen aufweisen. Im Durchschnitt liegt das Underpricing aber aus Anlegersicht noch im positiven Bereich.
Den Forscherinnen zufolge gehen um eine Standardabweichung höhere ETF-Bestände am Emissionstag mit einem 3,5 Basispunkte niedrigeren Underpricing einher. Das entspricht rund zehn Prozent des durchschnittlichen Underpricings von 34 Basispunkten innerhalb der gesamten Stichprobe. Hochgerechnet auf das mittlere Anleihenvolumen von 791 Millionen US-Dollar, ergibt sich aus den 3,5 Basispunkten ein Gegenwert von etwa 275.000 US-Dollar beziehungsweise von über 1,2 Milliarden US-Dollar für alle 4.407 Geschäfte, für die vollständige Daten vorliegen. Dabei ist jedoch einschränkend zu berücksichtigen, dass die Bestände am Emissionstag bereits verzerrt sein könnten, wenn intraday schon am Sekundärmarkt gehandelt wurde oder ETFs die Anleihen über einen Creation Basket erhalten haben.
Anschließend vergleichen die Autorinnen ihre Ergebnisse mit einer Stichprobe an Emissionen, die wahrscheinlich bei anderen institutionellen Anlegern wie aktiven Fonds und Versicherern platziert wurden. Dort liegt das durchschnittliche Underpricing mehr als fünfmal höher als bei Emissionen mit eindeutiger ETF-Zuteilung. Die Diskrepanz bleibt auch später signifikant. Bis zum zehnten Handelstag nach Emission erzielen Bonds, die nicht ETFs zugeteilt wurden, eine Outperformance von mehr als zwei Prozent gegenüber Anleihen, die ihnen zugeteilt wurden. Hinzu kommt, dass Bonds mit einem höheren ETF-Anteil am Emissionsdatum eine höhere Wahrscheinlichkeit aufweisen, innerhalb des ersten Jahres herabgestuft zu werden. Insgesamt verdeutlicht das Paper also, dass ETFs systematisch einen höheren Prozentsatz weniger attraktiver Emissionen von Corporate Bonds halten.
Weitere Bestätigung
In weiteren Untersuchungen bezieht die Studie alle passiven und aktiven Investmentfonds in die Betrachtung ein, die ihre Bestände nur monatlich berichten. Dabei analysieren die Forscherinnen nur diejenigen Emissionen von Corporate Bonds, die an den letzten beiden Handelstagen des Monats stattfinden. Das minimiert den zeitlichen Abstand und damit die Gefahr großer Verzerrungen zu den berichteten Beständen, verringert aber auch die Größe der verfügbaren Stichprobe erheblich. Allerdings kann der betrachtete Zeitraum auf die Jahre 2011 bis 2020 ausgedehnt werden.
Die Ergebnisse dieser Analyse fallen ähnlich aus wie zuvor. Besonders interessant ist der von den Forscherinnen aufgedeckte Kontrast zwischen passiven und aktiven Fonds (siehe Grafik „Aktive Fonds im Vorteil“). Demnach haben passive Fonds systematisch höhere und aktive Fonds systematisch niedrigere Bestände von Emissionen mit geringem Underpricing und schlechter Performance. Bleibt noch die Frage, worauf die unterdurchschnittliche Performance passiver Zuteilungen zurückzuführen ist. Den Autorinnen zufolge neigen Emissionsbanken dazu, Fondsfamilien mit passiven Strategien eher schlecht performende Anleihen zuzuteilen. Wenn die Fondsfamilien sowohl aktive als auch passive Fonds haben, allokieren sie die schlechten Bonds eher in ihre passiven Produkte. Das lässt sich damit erklären, dass die Fondsmanager bei aktiven Fonds höhere Gebühren verdienen.
Passives Auffangbecken
Die Ergebnisse lassen sich so interpretieren, dass passive Fonds als Abladeplatz für Primärmarktzuteilungen mit schwacher Nachfrage seitens anderer Anleger fungieren. Damit können sie bei Emissionen von Corporate Bonds als „Käufer der letzten Instanz“ betrachtet werden, mit deren Hilfe sich schwierige Platzierungen erfolgreich abschließen lassen. Das gilt vor allem für überteuerte Emissionen. Dort kann die charakteristische preisunempfindliche Nachfrage passiver Fonds einen Abschluss ermöglichen, der unter bloßer Beteiligung aktiver Anleger wahrscheinlich nicht zustande gekommen wäre. Ohne die passive Nachfrage hätte man also das Angebot zurückziehen oder die Bedingungen für aktive Anleger attraktiver gestalten müssen.
Letztlich scheinen also Konsortialbanken und Firmen auf Kosten der passiven Anleger zu profitieren. Die Forscherinnen schreiben, dass es auch regulatorisch relevant sein kann, wenn diese Anlegergruppe systematisch ausgenutzt wird. Aber auch Fondsfamilien, die aktive und passive Produkte anbieten, haben einen Vorteil, indem sie ihre aktiven Fonds bevorzugt behandeln. Trotzdem ist die Primärmarktbeteiligung aufgrund des im Mittel erzielten Underpricings für passive Anleger positiv. Im Idealfall können sie damit Kosten kompensieren oder sogar einen positiven Tracking Error erzielen. Ohne die Beteiligung am Primärmarkt müssten sie ganz darauf verzichten.
Dr. Marko Gränitz