Nachhaltiges Datenchaos
Die nichtfinanzielle Berichterstattung nimmt zu, was durchaus für Probleme sorgt. Investoren wünschen sich vor allem mehr Standardisierung beim Berichtswesen zum Thema Nachhaltigkeit, fand eine ESG-Studie von Russell Investments heraus.
Auch wenn sich Klima- und sonstige Umwelteinflüsse nicht auf Landesgrenzen beschränken lassen, sind die Nachhaltigkeits-Gesetzgebung und deren Umsetzung regional sehr unterschiedlich. Wie weit Investoren und Asset Manager in den einzelnen Regionen sind und welche unterschiedlichen Herausforderungen und Präferenzen sie sehen, untersuchte Russell Investments in seiner aktuellen ESG-Studie, an der weltweit 236 Asset-Management-Unternehmen teilgenommen haben.
Umweltthemen stehen im Vordergrund
„Fast die Hälfte (45 Prozent) der befragten Asset Manager sagen in der Befragung 2022, dass Klimarisiken das dominierende ESG-Thema für ihre Kunden darstellen“, erklärt Yoshie Phillips, Head of Fixed Income ESG Investing bei Russell Investments. In der vorjährigen Untersuchung lag diese Zahl noch bei 39 Prozent. Insofern sind Klimarisiken das dominierende und ein immer noch wachsendes Thema, insbesondere bei Asset Managern aus Kanada, Großbritannien und Australien. Auch in Europa steht der Klimawandel ganz oben auf der Prioritätenliste, allerdings in Verbindung mit weiteren Umweltaspekten. 95 Prozent der Asset Manager in Kontinentaleuropa geben an, dass ihren Kunden Klimarisiken (42 Prozent) beziehungsweise generelle Umweltrisiken (53 Prozent) wichtig sind. Weltweit identifizieren 68 Prozent der Asset Manager den Klimawandel und weitere Umweltthemen als die wichtigsten ESG-Anliegen ihrer Kunden, gegenüber 60 Prozent im Jahr 2021.
Diversität ist in den USA ein Thema
„Die Untersuchung zeigt, dass sich die Investoren stark auf Klima- und Umweltfragen im weiteren Sinne konzentrieren und andere ESG-Themen bis dato eine deutlich geringere Resonanz finden“, erklärt Yoshie Phillips. Speziell in den USA zeichnet sich allerdings ab, dass sich ein neuer Nachhaltigkeitstrend entwickelt: „In Nordamerika berichten die Asset Manager, dass ihre Kunden zunehmend auch Diversity-Ziele umgesetzt sehen wollen.“ Im amerikanischen Sprachgebrauch hat sich hierfür der Begriff „Diversity, Equity and Inclusion“ (DEI) eingebürgert, was übersetzt so viel heißt wie Vielfalt, Teilhabe und Inklusion.
In der Umfrage haben 16 Prozent der teilnehmenden Asset Manager aus den USA DEI als das aktuell wichtigste Nachhaltigkeitsziel ihrer Kunden angegeben. In Großbritannien waren es drei Prozent, und in Kontinentaleuropa, Japan und den anderen Regionen wird Diversity noch nicht als wichtiges Nachhaltigkeitsthema wahrgenommen.
Trotzdem sieht Russell Investments wachsende Bemühungen unter den Asset Managern, Diversity nicht nur bei den Portfoliounternehmen, sondern auch im eigenen Umfeld umzusetzen. Unter denjenigen, die DEI-Zahlen offenlegen, beschäftigen 54 Prozent der Antwortenden weniger als 20 Prozent Frauen und 40 Prozent weniger als 20 Prozent ethnische Minderheiten in ihren Anlageteams. Vorreiter gibt es auf diesem Gebiet nur wenige. Lediglich vier Prozent der Befragten haben einen Frauenanteil, der über 40 Prozent liegt, und 17 Prozent geben an, mehr als 40 Prozent ethnische Minderheiten in ihren Anlageteams zu beschäftigen. „Offenbar beschäftigt sich die Mehrheit der Asset Manager mit Diversity-Themen, denn die meisten von ihnen waren in der Lage, Daten zu diesem Punkt zu liefern“, bemerkt Phillips. In Bezug auf den Frauenanteil in den Managementteams konnten 85 Prozent Daten liefern, und in Bezug auf ethnische Minderheiten waren es immerhin 69 Prozent, die den Anteil im Managementteam benennen konnten.
Die Erfahrung zeigt, dass wenn die Daten erst einmal erhoben sind, die entsprechenden Kennzahlen meistens im Auge behalten und weiter verfolgt werden.
Mangelnde Konsistenz und Transparenz
In seiner Untersuchung wollte Russell Investments auch wissen, welche spezifischen Herausforderungen die Asset Manager aktuell dabei sehen, Nachhaltigkeitsinformationen in der Portfoliokonstruktion zu berücksichtigen.
Als größte Herausforderung empfanden 18 Prozent der Antwortenden, dass in Bezug auf Nachhaltigkeitsinvestments sehr unterschiedliche Kundenbedürfnisse zu bedienen seien. „Das ist verständlich, da die spezifischen ESG-Präferenzen je nach Region und Investor stark variieren“, meint Philipps. Mit One-Size-Fits-All-Produkten könne man daher nicht auf dem globalen Markt agieren. Einige Kunden bevorzugen beispielsweise Portfolios, die sich auf die Bekämpfung von Klimarisiken konzentrieren, während andere eher soziale Aspekte berücksichtigt haben wollen.
Als weitere Schwierigkeit sehen 16 Prozent der befragten Asset Manager die unklaren Auswirkungen der ESG-Berücksichtigung auf ihre Preisgestaltung an. Verständlicherweise wollen die Asset Manager die zusätzlich anfallenden Kosten – beispielsweise für den Bezug von ESG-Daten oder den Aufbau ihrer Nachhaltigkeitsteams – gern auf ihre Kunden umlegen. Dagegen sehen einige Investoren die Berücksichtigung von ESG-Themen als notwendigen Bestandteil eines modernen Asset Managements an und möchten nicht extra dafür bezahlen.
Auffällig an den Ergebnissen ist, dass bei der Frage nach der größten Herausforderung 35 Prozent der Antwortenden „Sonstige“ angegeben haben. Näher dazu befragt sagt die Mehrheit, dass Transparenz und Konsistenz von Nachhaltigkeitsdaten Schlüsselthemen für sie sind. „Mangelnde Konsistenz und Transparenz der Daten sind tatsächlich ein gravierendes Problem“, meint Yoshie Phillips. „Jedes Land startet mit der Erhebung von ESG-Daten an einem anderen Punkt und erhebt die Daten in einer anderen Art und Weise. Unterschiede gibt es dabei vor allem im Vergleich zwischen Industrie- und Schwellenländern. Die Frage ist: Wie lassen sich all die unterschiedlich aufbereiteten Daten am Ende interpretieren? Welche Schlüsse sollen die Asset Manager in Bezug auf die Portfoliozusammenstellung daraus ziehen?“ Sie beobachtet, dass viele Asset Manager ESG-Daten am liebsten nur als ein weiteres Datenset betrachten würden, dessen finanzielle Relevanz sie identifizieren wollten, aber so einfach sei es in der praktischen Auswertung leider nicht. Wie man dieses relativ neue Datenset bewertet, für das es noch keine weltweit gültigen Standards gibt, sei essenziell für den Portfolioausbau, aber auch eine Frage der individuellen Interpretation.
Die Verkleinerung des Investmentuniversums, die häufig als Argument gegen die Anwendung von ESG-Faktoren ins Feld geführt wird, empfinden nur vier Prozent der Befragten als ihr größtes Problem. Andere Herausforderungen scheinen gravierender zu sein.
Initiativen und Zusammenschlüsse
Da die Nachhaltigkeitsthematik schwierig umzusetzen und der Bedarf nach einer weiteren Standardisierung hoch ist, haben sich die meisten Asset Manager einer Nachhaltigkeitsinitiative angeschlossen. Sie erhoffen sich davon, dass gemeinsame Industriestandards gefunden werden. Besonders beliebt unter den Asset Managern sind die von den Vereinten Nationen unterstützten Prinzipien für verantwortungsbewusstes Investieren (PRI). Von den 236 Umfrageteilnehmern haben 87 Prozent die UN-PRI unterzeichnet, verglichen mit 80 Prozent im Jahr 2021 und 75 Prozent im Jahr 2020. Die größte Veränderung bei den Unterzeichnern war bei den in den USA ansässigen Asset Managern zu verzeichnen, wo der Anteil der Unterzeichner von 73 auf 85 Prozent angestiegen ist (2021 verglichen mit 2022).
Die Mehrheit der Befragten (56 Prozent) unterstützt auch die Task Force on Climate-Related Financial Disclosures (TCFD). In Europa wird häufig die Net Zero Asset Managers Initiative genannt. Deren Unterzeichner verpflichten sich, ihre Pläne zur Erreichung des Ziels einer Netto-Null-Emission bis 2050 offenzulegen und ihre Ziele regelmäßig zu aktualisieren. Das soll zu mehr Transparenz und einer verbesserten Rechenschaft beitragen.
Es gibt mehrere Netto-Null-Zielrahmen. Die beliebtesten sind:
• Net Zero Investment Framework der Paris Aligned Investment Initiative (NZIF),
• Science Based Targets Initiative (SBTi)
• Net Zero Asset Owner Alliance Target Setting Protocol
„Viele der Unterzeichner haben noch nicht offengelegt, für welchen dieser Zielrahmen sie sich entschieden haben“, erklärt Phillips, „aber sie sind der Net Zero Asset Managers Initiative beigetreten.“
Kranz an Nachhaltigkeitsdaten erweitert sich
Auch hinsichtlich der Regulatorik entwickelt sich das Thema Nachhaltigkeit weiter. Einige Jahre haben es die Regulatoren den Unternehmen und Asset Managern weitgehend überlassen, wie sie über nichtfinanzielle Themen berichten; es musste lediglich berichtet werden, ohne dass das „Wie“ und das „Was“ genau ausdefiniert waren. Mittlerweile gewinnen Leitlinien für ESG-bezogene Berichterstattung an Bedeutung. Beispiele dafür sind das von den G 20 unterstützte Rahmenwerk Task Force on Climate-Related Financial Disclosures (TCFD) und die von der EU-Kommission erlassene Offenlegungsverordnung (Sustainable Finance Disclosure Regulation, SFDR) sowie die Corporate Sustainability Reporting Directive (CSRD).
Dennoch variieren die Inhalte, über die Unternehmen berichten, immer noch stark. Die Umfrage zeigt, dass CO2-Emissionsdaten (der sogenannte Carbon Footprint) aktuell mit 87 Prozent zu den am meisten verwendeten Berichtsgrößen gehören. „Es zeichnet sich jedoch ab, dass sich die Bandbreite an Nachhaltigkeitsdaten, über die berichtet wird, deutlich erweitert“, beobachtet Phillips. In der Umfrage folgen nach CO2-Daten mit jeweils 56 Prozent ESG-Scores, die entweder intern oder extern generiert werden. Auf Platz vier und fünf folgen Metriken zu Diversität und zur Klima-Transition, über die berichtet wird. „Daneben gibt es eine Reihe kontroverser Sektoren, über die ebenfalls berichtet wird“, erklärt Phillips.
„Die Umfrageergebnisse von 2021 deuteten noch darauf hin, dass immer mehr Vermögensverwalter ihre intern abgeleiteten ESG-Merkmale oder -Kennzahlen verwenden, im Gegensatz zu Metriken von externen ESG-Datenanbietern. Dieses Jahr war das Verhältnis jedoch 50:50 zwischen Asset Managern, die ESG-Daten von Drittanbietern oder eigene Kennzahlen verwenden“, beobachtet Phillips. Dieses Ergebnis decke sich auch mit den eigenen Marktbeobachtungen: „Bei unseren Gesprächen mit Asset Managern hören wir oft, welche Herausforderungen ESG-Daten von Drittanbietern mit sich bringen und dass die Häuser versuchen, diese mit ihrer internen ESG-Analyse zu ergänzen.“
In der Praxis verwenden Asset Manager heute sowohl intern als auch extern abgeleitete ESG-Daten in ihrer Berichterstattung. Phillips weiß warum: „Das deutet darauf hin, dass Investoren eine Standardisierung bei der Offenlegung von wichtigen ESG-Kennzahlen wünschen und dass die Asset Manager zunehmend auf diese Forderung reagieren.“
Was Berücksichtigung von ESG-Daten nützt
Das führt zur nächsten Frage, nämlich ob und wie die Berücksichtigung von Nachhaltigkeitsfaktoren die Investmententscheidung beeinflussen soll. Wie zu erwarten, hat sich bei der Frage des „Ob“ in den letzten drei Jahren viel getan: Während bei der Umfrage 2019 noch 45 Prozent antworteten, dass ESG-Faktoren die Investmententscheidungen gar nicht beeinflussen, sahen das bei der Umfrage 2022 nur noch 24 Prozent so. Heute erachten deutlich mehr als 2019 die Berücksichtigung spezifischer ESG-Überlegungen als wesentlich, um das Risiko eines Portfolios zu reduzieren (35 Prozent sahen dies 2019 so und 46 Prozent in der Untersuchung 2022). Außerdem halten bei der aktuellen Befragung 23 Prozent die Berücksichtigung spezifischer ESG-Faktoren für wesentlich, um damit die Renditen ihrer Portfolios zu erhöhen. Bei der Befragung von 2019 waren dies nur 20 Prozent.
„Das deutet darauf hin, dass die Asset Manager ihre Portfoliounternehmen herausfordern, Nachhaltigkeit in Prozesse und Lieferketten zu integrieren. Insbesondere aktive Manager treten mit ihnen in den Engagement-Prozess ein, sprechen die Punkte an, die noch mangelhaft umgesetzt sind, vereinbaren mit ihnen Ziele und begleiten sie aktiv im Umsetzungs- und Bewertungsprozess“, beobachtet Phillips.
Es geht weiter!
Auch wenn Klimarisiken das dominierende ESG-Thema darstellen und Diversity-Themen in den USA zunehmend in den Vordergrund treten, geht der Themenreigen in Sachen Nachhaltigkeit weiter. „Insbesondere von Asset Managern in Europa hören wir, dass Biodiversität ein Thema ist, das vermehrt auf die Agenda kommt“, sagt Phillips, wobei man sich hier noch in einem sehr frühen Stadium befinde. Auch saubere Ozeane würden zunehmend als Umweltthema angesprochen. „Es gibt bereits erste Blue Bonds; sie stellen ein spezielles Segment der Green Bonds dar und werden entwickelt, um nachhaltige Meeres- und Wasserprojekte zu unterstützen.“ Noch handle es sich dabei aber um Nischenprodukte. Auch Transitionsthemen, also Lösungen, die den Übergang zu einer ökologisch-sozial besser austarierten Wirtschaft erleichtern, rücken zunehmen in den Vordergrund. „Der expandierende Markt an nachhaltigen Anleihen wie Green und Sustainability-Linked Bonds sind ein Beweis dafür“, so Phillips. So gebe es immer mehr Produkte, die den Erfüllungsgrad hinsichtlich wichtiger Nachhaltigkeitszielsetzungen – sogenannte KPIs (Key Performance Indicators) – bei der Rendite berücksichtigen.
Anke Dembowski
Anke Dembowski