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1/2023 | Theorie & Praxis

ESG auf einem Auge blind

Menschenrechtsverletzungen sind in Europa mit dem Ausbruch des Ukrainekriegs zunehmend in den Blickpunkt des öffentlichen Interesses gerückt. In diesem ­Zusammenhang könnte es für institutionelle Investoren ein böses Erwachen geben.

Menschenrechte scheinen die großen Anbieter von ESG-Ratings in ihren allgemeinen ESG-Produkten nicht ausreichend zu erfassen. Das könnte bei dezidiert als 
Menschenrechte scheinen die großen Anbieter von ESG-Ratings in ihren allgemeinen ESG-Produkten nicht ausreichend zu erfassen. Das könnte bei dezidiert als © freshidea | stock.adobe.com

ESG ist im Investmentbereich längst von der Kür zur Pflicht mutiert. War der Druck, ökologische, soziale und Governance-Standards einzuhalten, anfangs noch ein informeller, so ist dieser durch zahlreiche regula­torische Initiativen inzwischen mehr oder weniger verbindlich geworden. Zuletzt galt es, die EU-Taxonomie umzu­setzen, was letzten Endes in eine völlig neue Fondskatego­risierung mündete.

An sich schien es bis Anfang 2022 auch so, als würden ­sowohl Asset Manager als auch institutionelle Investoren grosso modo ihre Hausaufgaben machen. Zwar tauchte punktuell immer wieder der Vorwurf von Green- oder Bluewashing auf, prinzipiell waren aber vor allem in Sachen „E“ und zuletzt auch immer stärker in Sachen „G“ Fortschritte bei der Implementierung von ESG-Forderungen im Investmentprozess zu beobachten. Mit dem Ausbruch des Ukrainekriegs verschob sich der Fokus jedoch. Der Aspekt der Menschenrechte – auch eines der SDGs (Social Development Goals) der Vereinten Nationen – rückte plötzlich verstärkt in den Brennpunkt des Interesses. Das mündete nicht zuletzt in die sogenannte „Hall of Shame“, eine Liste, die von Yale-Professor Jeffrey Sonnenfeld zusammengestellt wird und aufzeigt, welche Unternehmen sich aus ihren bestehenden Russland-Aktivitäten zurückgezogen haben – und welche nicht. Hier hatte zuletzt beispielsweise die österreichische Raiffeisen Bank International gespürt, welchen ­öffentlichen Druck eine Aufrechterhaltung des Russland-Geschäfts nach sich ziehen kann – ein Druck, dem im konkreten Fall gegenüber steht, dass die Bank ihren Gewinn 2022 nahezu verdreifachen konnte und rund 60 Prozent des Ergebnisses aus dem Russland-Geschäft stammen.

Partielle Enttäuschung

Doch wie erfassen die gängigen ESG-Ratings Investments, die in menschenrechtlich diskussionswürdigen Regionen getätigt werden? Einen Hinweis darauf liefert eine ESG-Analyse, die knapp 2.000 österreichische und deutsche Aktienfonds umfasst und zum Jahreswechsel von ESG Plus, Obergantschnig Financial Strategies und Ethico durchgeführt wurde. Die zentrale Frage lautete, ob nachhaltige Fonds ­gemäß SFDR (EU-Offenlegungsverordnung) wirklich nachhaltiger sind als konventionelle Fonds. Fonds, die nach dem Österreichischen Umweltzeichen zertifiziert sind, wurden ebenfalls berücksichtigt. Bei der von der österreichischen Nachhaltigkeitsratingagentur ESG Plus durchgeführten Cleanvest-Analyse wurden insgesamt 16 Kriterien zur Bewertung der Unternehmensaktien berücksichtigt und in zehn Hauptkriterien – fünf Umwelt- und fünf Sozialkriterien – zusammengefasst. Es zeigt sich, dass die Kriterien, die die besten Ergebnisse unter den nachhaltigen Fonds (Artikel 8, Artikel 9 und Umweltzeichen) erzielen, die Themen „Frei von Waffen“, „Frei von Atomenergie“, „Frei von Kohle“ und „Artenschutz“ sind. Im Mittelfeld rangieren die Kriterien „Grüne Technologien“, „Frei von Öl & Gas“ und „Frei von Kinderarbeit“. Bei den zehn untersuchten Cleanvest-Kriterien weisen Fonds österreichischer KAGs mit Ausnahme eines Kriteriums (Kinderarbeit) bessere Nachhaltigkeitswerte auf als ihre deutschen Pendants.

ESG und Menschenrechte: Aufholbedarf

Die Kriterien mit den schlechtesten Ergebnissen unter den nachhaltigen Fonds lauten: „Indigene Rechte“, „Gleich­stellung von Frauen“ und „Bildung & Gesundheit“. „Die Nachhaltigkeitsstrategien der Fonds haben in den Bereichen Gleichstellung von Frauen und Schutz indigener Rechte den größten Aufholbedarf. Im Fall der indigenen Rechte ist das vor allem ein Lieferkettenproblem“, erklärt Armand ­Colard von ESG Plus. „Derzeit liegt der Fokus der Fonds eher auf Ausschlusskriterien wie Waffen, Atomenergie und fossile Investitionen. Die Fonds sollten sich in Zukunft noch stärker mit Geschäftsfeldern mit positiver Wirkung wie ­Bildung und Gesundheit beschäftigen, denn es braucht ­beides für eine nachhaltige Entwicklung im Sinne der Sustainable Development Goals der Vereinten Nationen“, so ­Josef Obergantschnig von Ethico.

Doch wie entsteht selbst bei Artikel-8- und -9-Fonds diese Diskrepanz zwischen dem Erreichen von ökologischen Nachhaltigkeitszielen und dem optimalen Einhalten von Menschenrechten im Investitionsprozess?

Suboptimal erfasst

Eines der Hauptprobleme ist laut Emil Sirén Gualinga, ­Autor des Working Papers „ESG Rating and Human Rights Due Diligence“, dass die breiten ESG-Screening-Mechanismen, mit deren Hilfe viele Asset Manager und Investoren agieren, den Faktor „Menschenrechte“ nur suboptimal erfassen. Der ESG-Spezialist, der bei dem auf Nachhaltigkeit ­spezialisierten schwedischen Consulter Ethos als Berater tätig ist, hat in seiner Arbeit die Umsetzungsschwierigkeiten analysiert, mit denen sich große institutionelle Investoren beim Implementieren von Menschenrechtsaspekten in die eigene Anlagestrategie konfrontiert sehen.

Da es bei großen, stark gestreuten Portfolios de facto unmöglich ist, jedes einzelne Unternehmen auf die Einhaltung von ESG-Standards zu überprüfen, sind Asset Manager und Investoren über weite Strecken auf die Dienste von Rating­agenturen, die ESG-Faktoren untersuchen, angewiesen – oder aber auf Proxy-Consulter wie ISS (Institutional Shareholder Services), die die Stimmrechte ihrer Klienten nach deren generellen Vorgaben bei Hauptversammlungen wahrnehmen und je nach Bedarf auch weiterführende Engagement-Strategien fahren, um die Interessen der von ihnen ­vertretenen Investoren zu wahren.

Doch wie gut nehmen diese Agenturen Menschenrechtsfragen in ihre Analysen auf? Um das herauszufinden, hat sich Gualinga eines Taschenspielertricks bedient und die ­allgemeinen ESG-Ratings der großen Agenturen S&P, ­Sustainalytics, MSCI, ISS und Refinitiv mit den Ratings der auf Menschenrechte spezialisierten Corporate Human Rights Benchmark (CHRB) verglichen.

Brandneuer Ansatz

Bei CHRB handelt es sich um ein erst 2022 lanciertes ­Produkt der World Benchmarking Alliance, das zwar vom Ansatz her vielversprechend ist und die Lücke beim Monitoring von Menschenrechtsverletzungen schließen könnte, bei Redaktionsschluss aber nur 129 Unternehmen weltweit gemäß den United Nations Guiding Principles on Business and Human Rights (UNGPs) covert (Anm.: Methodologie siehe QR-Code in der Marginalspalte). Dabei handelt es sich um extrem große Unternehmen, die von der Agentur in drei Sektoren unterteilt werden: Lebensmittel und Landwirtschaft, die Automotive-Industrie sowie Informations- und Kommunikationstechnologie (ICT).

Vom Prinzip her überprüft die Agentur ein Unternehmen in sechs Segmenten – A bis E –, ob den UNGPs Rechnung getragen wird. Die Benotungsskala läuft von 0 bis 100. Je höher der Wert, desto stärker werden die UNGPs berücksichtigt. Die Kategorien werden unterschiedlich gewichtet und listen sich folgendermaßen auf:

A: Governance und Firmenpolitik

B: Vorhandensein von Due Diligence in ­Menschenrechtsfragen

C: Entschädigungs- und Schlichtungsmechanismen

D: Performance bei der Umsetzung von ­Menschenrechtsfragen im Konzern

E: Reaktionen auf schwerwiegende Anschuldigungen

Die Punkte A und können B noch in vier weitere Unterpunkte gegliedert werden (siehe auch Infokasten „Menschenrechtsmonitor à la CHRB“).

Hohe Anforderungen

Was man den Analysten von CHRB nicht vorwerfen kann, ist, dass sie die von ihnen untersuchten Unternehmen mit Samthandschuhen anfassen – wie man dem aktuellen Jahresbericht 2022 entnehmen kann: So gelingt es von den 129 untersuchten Unternehmen nur einem aus dem Lebensmittelbereich, in den Bereich von 50 bis 60 Punkten vorzustoßen – das bei einer Höchstpunktezahl von 100 (siehe Chartbild „Harsche Kritik“). Durchschnittlich am besten schlug sich der Bereich Information und Kommunikation. Beunruhigend ist jedoch, von welch geringen Erwartungen aus die Punkte erzielt wurden. So heißt es in dem Bericht:?„61 Prozent der untersuchten ICT-Unternehmen haben sich dazu verpflichtet, die Mobilität ihrer Mitarbeiter nicht einzuschränken, wie das beispielsweise über die Abnahme der Reisedokumente geschehen könnte.“ Liest man dieses Ergebnis andersherum, haben sich aber 39 Prozent der Konzerne eben nicht dazu bekannt, von einem solchen Verhalten ­Abstand zu nehmen. Ebenfalls positiv wird herausgestrichen, dass „42 Prozent das Recht der Arbeitnehmer auf Gründung einer Gewerkschaft respektieren“. Auch hier:?58 Prozent respektieren dieses Recht demnach nicht.

Probleme in der Lieferkette

Die CHRB-Studie bestätigt übrigens auch die Erkenntnisse der eingangs erwähnten ESG-Analyse unter deutschen und österreichischen Fonds, wonach die schlechten Resultate im Menschenrechtsbereich „vor allem ein Lieferkettenproblem“ darstellen. Laut CHRB inkludieren nämlich nur 33 Prozent der Unternehmen grundlegende Menschenrechte wie etwa das Verbot von Kinderarbeit in ihren Lieferantenverträgen, und nur elf Prozent arbeiten mit ihren Zulieferern aktiv an der Einhaltung von Menschenrechten zusammen.

Für Investoren und Asset Manager stellen diese Ergebnisse allein aus Due-Diligence-Sicht relativ alarmierende Nachrichten dar, sieht doch nicht zuletzt etwa Stuart Kirk, der ehemalige HSBC-Banker, der mit seinen kritischen Bemerkungen zur gängigen ESG-Praxis in Ungnade gefallen ist, „gewaltige juristische Risiken auf die Branche zukommen“.

Litigationsrisiken

Der Banker, der gegenwärtig mit einer regelmäßigen ­Kolumne in der „Financial Times“ für Furore sorgt und als Diskutant auf dem Institutional Money Kongress 2023 ­auftreten wird, warnt davor, dass sich Anleger ihre ESG-Produkte genauer ansehen und angesichts der tatsächlichen ­Investments der Produkte – beispielsweise in Waffen oder fossile Brennstoffe – zu Sammelklagen schreiten könnten. Artikel-8- oder Artikel-9-Fonds nehmen ja nicht selten für sich in Anspruch, auf die SDG-Ziele (Social Development Goals) der Vereinten Nationen abzuzielen und diverse SRI-(Socially Responsible Investment)-Gütesiegel zu tragen. ­Somit stellt sich die Frage, ob die gängigen großen ESG-­Ratings, die bei der Fondskonstruktion in der Regel zurate gezogen werden, die untersuchten Unternehmen tatsächlich ausreichend auf Menschenrechtsfragen prüfen und Anleger ausreichend davor schützen, Human-Rights-Risiken im Portfolio zu tragen. Um diese Frage zu beantworten, hat Gualinga die Korrelationen zwischen den ESG-Ratings der großen Agenturen Sustainalytics, MSCI, S&P, Refinitiv sowie des Proxy-Con­sulters ISS untersucht.

Die Ratio: Nachdem CHRB entlang der UN Guiding Principles agiert, würde eine hohe Korrelation zu den ­großen Agenturen darauf schließen lassen, dass diese die UN-Prinzipien in ausreichendem Maß berücksichtigen. Ein allfälliges Due-Diligence-Problem würde bezüglich Menschenrechtsfragen also eingeschränkt werden. Gualinga prüft die Ähnlichkeiten zwischen Index und Ratings über die gängige Pearson-Korrelation. Dabei berechnet er nicht nur die Ähnlichkeiten zwischen dem CHRB-Index und den ­Ratings, sondern auch, inwiefern es Korrelationen zwischen den einzelnen Subthemen und den landläufigen ESG-­Ratings gibt.

Human-Rights-Risiken im Portfolio

Um es kurz zu machen:?Die Ergebnisse sind relativ ernüchternd. Tatsächlich gibt es allgemein gesehen statistisch relevante positive Korrelationen zwischen den großen ESG-­Ratings und dem Menschenrechtsindex (siehe Tabelle „ESG und Human Rights: Schwache Abbildung“) – dies gilt insbesondere für MSCI, ISS und Refinitiv. Bei der faktischen Umsetzung von Menschenrechten befindet sich die statistische ­Signifikanz von Sustainalytics-Ratings jedoch auf einem ­relativ schwachen statistischen Niveau von 90 Prozent.

Ernüchternd wirkt jedoch der Blick auf die Korrelation bei der Einschätzung europäischer Unternehmen: In vier von fünf Fällen ist diese insignifikant, Refinitiv schafft gerade einmal ein Signifikanzniveau von 90 Prozent. In den rest­lichen Regionen variieren die Korrelationen ebenfalls ­deutlich, am stärksten belastbar sind die Ergebnisse für Nordamerika. Für Investoren bedeutet das laut Gualinga, dass sie beim Heranziehen von herkömmlichen ESG-­Ratings nicht ausreichend vor Human-Rights-Litigations­risiken – zumindest wie sie nach UNO-Vorgaben verstanden werden – gefeit sind. Das ist – aus rein juristischer Sicht – zwar noch kein großes Risiko, mit dem Ausbruch des ­Krieges ist die Sensibilität der Öffentlichkeit für dieses ­Thema jedoch massiv geschärft worden. Solange allgemeine ESG-Ratings hier nicht nachgeschärft werden, sollte man in Betracht ziehen, spezialisierte, auf Menschenrechte zugeschnittene Produkte wie etwa den Human Rights Score von Refinitiv zurate zu ziehen.

Hans Weitmayr

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