»Die Geopolitik hat die Kapitalmärkte im Griff«
Prof. Adam Tooze von der New Yorker Columbia University geht davon aus, dass wir uns verabschieden müssen von der hehren Erwartung, mit Wirtschaftswachstum und Modernisierung gehe eine große globale Konvergenz einher.
Er ist nicht nur ein mit diversen Preisen überschütteter Historiker, Schriftsteller und Wirtschaftskommentator, er verbindet auch auf unvergleichliche Weise fundiertes historisches Fachwissen mit topaktueller Wirtschaftsanalyse. Adam Tooze lehrt seit 2015 als Professor an der New Yorker Columbia-Universität, wo er auch das dort ansässige Europäische Institut leitet. Der bilinguale Brite, der Vorträge auch in deutscher Sprache hält, ist zwar kein Mann des Alarmismus, scheut sich aber nicht, die Probleme anzusprechen, mit denen die Welt konfrontiert ist bei dem schwierigen Übergang von einem Paradigma, das die Globalisierung als Heilsbringer gefeiert hat, in eine Phase, in der zunehmend die Geopolitik die Oberhand gewinnt.
Herr Professor Tooze, Ihren Vortrag am diesjährigen Institutional Money Kongress hatten Sie überschrieben mit dem Titel „Rückkehr der Geopolitik“. Hat sich seither an Ihrer Sichtweise etwas Wesentliches geändert?
Prof. Adam Tooze: Seit dem Frühjahr dieses Jahres ganz bestimmt nicht. Tendenziell hat sich meine Einschätzung über den Sommer eher sogar verhärtet. Man muss ja nur die Nachrichten aus China in Bezug auf die dortige Entwicklung in Fragen der Energieversorgung ansehen, wo sich zudem eine inzwischen regelrecht krude materielle Überlegenheit im Bereich Industrieproduktion und bestimmten Schlüsseltechnologien immer stärker abzeichnet. Wir sollten nicht vergessen, dass eine der Grundfesten der vom Politikwissenschaftler Francis Fukuyama Anfang der 90er-Jahre geprägten „End of History“-Sichtweise war, als vermeintliche Erkenntnis des Kalten Krieges festzustellen, dass technologischer Wandel irgendwie verstrickt ist mit Freiheit, mit Meinungsfreiheit und mit Demokratie. Und dass letztlich autoritäre Systeme daran scheitern, dass sie nicht in der Lage sind, Innovationen zu fördern. Und jetzt sehen wir in einem absoluten Schlüsselbereich der modernen Technik, dass China einen riesigen Vorsprung hat, nicht nur in der Verarbeitungstechnologie, sondern eben auch in der Grundlagentechnik oder im Mobilfunk und nicht zuletzt in der fortschreitenden Erforschung von Kernenergie und beim Bau von Atomkraftwerken. All das untermauert meiner Ansicht nach eine Entwicklung, wie ich sie in meinem damaligen Vortrag erläutert habe. Das hat auf amerikanischer Seite fundamentale Zweifel geweckt, was sich in einer extrem defensiven Reaktion der Amerikaner manifestiert.
Worauf spielen Sie an?
Prof. Adam Tooze: Die Amerikaner würden sich ja nicht so sehr anstrengen, den Fluss von neuen Technologien nach China zu stoppen, wenn sie nicht Angst und auch Grund zur Angst hätten in Bezug auf die Fortschritte, die China im mikroelektronischen Bereich, im Bereich der künstlichen Intelligenz und so weiter ganz offensichtlich macht. Es ist ja eine ernsthafte Sorge, die Washington derzeit umtreibt. Nämlich dass wir uns wieder in einer Art Sputnik-Moment wie 1957 befinden könnten, als die Sowjetunion den ersten künstlichen Satelliten in den Weltraum geschickt und die USA?regelrecht in?Schockstarre versetzt hat, weil sich gezeigt hat, dass die Sowjetunion in der Raumfahrt technologisch weit voraus war.
Was sind denn Ihre größten Sorgen, wenn Sie von der Rückkehr der Geopolitik sprechen? Was muss man sich konkret darunter vorstellen?
Prof. Adam Tooze: Vielleicht sollte man sogar eher davon sprechen, dass die Geopolitik inzwischen die Kapitalmärkte im Griff hat. Eine Art Umkehr eines Paradigmas, wie es die 90er-Jahre geprägt hat, als ein Verständnis geherrscht hat, das seither gern in sehr verkürzter Form zusammengefasst wird als „It’s the economy, stupid!“ …
… eine Formel, die 1992 James Carville, ein politischer Berater von Bill Clinton, während der Präsidentschaftswahlkampagne 1992 geprägt hat.
Prof. Adam Tooze: Richtig, auf Deutsch würde man sagen: „Es geht um die Wirtschaft, Dummkopf!“ Der Satz sollte verdeutlichen, dass die Wirtschaft oft das wichtigste Thema ist, wenn es um politische Wahlen und Entscheidungen geht, und dass alles andere zweitrangig ist. Carville verwendete diesen Satz als eines von mehreren zentralen Wahlkampfmottos, um den Fokus des Teams und der Wähler auf das entscheidende Thema der Wahl zu lenken: die Wirtschaft. Diese einfache und pointierte Aussage erwies sich als äußerst wirksam, da sie die Aufmerksamkeit auf das drängendste Problem der damaligen Zeit lenkte. Und am Ende half der Slogan Bill Clinton, seinen damaligen republikanischen Kontrahenten George Bush zu besiegen, indem er die wirtschaftlichen Probleme der USA in den Vordergrund stellte. Und ich bin nach wie vor davon überzeugt, dass wir uns heute mit einem Zusammenbrechen dieses Paradigmas auseinandersetzen müssen.
In welcher Form?
Prof. Adam Tooze: Indem wir uns endlich verabschieden von der Vorstellung, dass die Wirtschaft im Grunde alle wesentlichen Fragen der heimischen Politik, der Innenpolitik, aber auch der Außenpolitik zu klären in der Lage ist oder schon von sich aus klärt. Das ist das, was dieser Gedanke einer Rückkehr der Geopolitik greifbar machen sollte. Das heißt, es geht heutzutage wieder sehr viel stärker um Macht, es geht auch um Ideologie, und es geht um Staatsinteressen. All diese Fragen, die scheinbar zum alten Eisen gehörten, sind ja wieder da.
Sie sagen von sich selbst, dass Sie für gewöhnlich keine Prognosen stellen. Ich frage Sie dennoch: Was ist so eine Art „Best Case“, und was wäre auf der anderen Seite ein „Worst Case“, den Sie im Kopf haben?
Prof. Adam Tooze: Wir müssen uns von der hehren Erwartung, dass mit Wirtschaftswachstum und Modernisierung eine große Konvergenz stattfindet, verabschieden. Dass Systemunterschiede sich auflösen und dass in China eine große Mittelschicht aufkommt, die liberal eingestellt ist und den Rechtsstaat einfordert. All das können wir, glaube ich, beiseite legen. Das ist nicht die Realität unserer heutigen Welt. Selbst zwischen Amerika und Europa müssen wir mittlerweile divergierende Tendenzen konstatieren. Die Politik Amerikas läuft auf anderen Schienen als die europäische. Was als Optimum vielleicht noch erreicht werden kann, ist eine bewusste friedliche Koexistenz von verschiedenen Systemen über ihre Unterschiede hinweg. Der Albtraum ist natürlich eine zunehmend ideologisierte, nicht mehr rückgängig zu machende Polarisierung und letztlich die Möglichkeit eines Großmachtkrieges. Das spreche ich nicht von einem Stellvertreterkrieg, wie wir ihn in der Ukraine oder im Nahen Osten erleben, sondern von einer unmittelbaren Konfrontation zwischen den USA und China.
Aber auch Sie werden doch nicht davon ausgehen, dass wir zurückkehren in eine Zeit, wie wir sie aus den 90er-Jahren kennen?
Prof. Adam Tooze: Ich würde sogar davor warnen. Man muss sich ja nur einmal vergegenwärtigen, wie eigenartig diese Epoche der 90er- und der beginnenden 2000er-Jahre gewesen ist. Denn es war doch eine Blütezeit der Globalisierung, die aber nur unter dem Vorzeichen der absoluten Vormacht des Westens gediehen ist. Es gibt vermutlich in der gesamten Weltgeschichte keine Epoche, in der ein Land, die USA, und seine Bündnispartner in der NATO für 80 Prozent aller weltweiten Rüstungsausgaben verantwortlich waren. Diese ungebrochene westliche Hegemonie und Globalisierung zugleich, das können wir abschreiben. Das kommt nie wieder. Die Frage ist, wie wir mit einer sehr viel stärker multipolar bestimmten Welt umgehen können und ob es dem Westen gelingt, von seinem Herrschaftsanspruch gewissermaßen Abstand zu nehmen. Denn wir sollten uns nichts vormachen:?Es ist schon ein starker Herrschaftsanspruch, der die amerikanische Seite prägt. Daher ist die Frage, wo uns ein Rückzug von dieser Position gelingen kann – ohne Erniedrigung, ohne Ressentiment und vor allem ohne gewissermaßen in Aggressivität überzugehen.
Was meinen Sie, wenn Sie von einer Fehlkalkulation sprechen, der wir in geopolitischer Hinsicht gerade unterliegen?
Prof. Adam Tooze: Das Kalkül war, dass Wirtschaftswachstum zu Hause für Wohlstand und eine stabile Demokratie sorgen und uns gegenüber unseren Feinden weltweit die Oberhand geben würde, weil das Alliiertensystem der westlichen Mächte Europa und Amerika zusammenschnüren und Konvergenz herstellen würde. Und heute stellen wir fest, dass die erfolgreichste Epoche der Globalisierung am Ende einhergeht mit einer Polarisierung in der Weltpolitik, aber eben auch mit Spannungen, durch die das Problem Ungleichheit innerhalb der demokratischen Systeme, vor allem in Amerika, aber eben zu einem Teil auch in Europa regelrecht explodiert ist. Deshalb war es eine regelrechte Fehlkalkulation anzunehmen, mit Wirtschaftswachstum in gewisser Weise alle Fragen lösen zu können.
Was muss aus Ihrer Sicht geschehen?
Prof. Adam Tooze: Als Erstes sollten wir, auch wenn es ernüchternd sein mag, als Ergebnis akzeptieren, dass trotz und tatsächlich manchmal wegen der Notwendigkeit von Wirtschaftswachstum Politik und Diplomatie erforderlich und von einer besonderen Bedeutung sind. Wir müssen uns der Herausforderung stellen, die Welt wirklich politisch und diplomatisch zu gestalten und wichtige Fragen nicht einfach in die Wirtschaft zu verschieben. Was dann natürlich auch eine Art Ausbalancieren braucht zwischen Privatwirtschaft und öffentlicher Hand, zwischen Privatwirtschaft und Politik. Denn Treiber des Wirtschaftswachstums seit den 90er-Jahren sind ja am Ende die privaten Interessen. Aber wenn wir uns nun einmal mit einer Welt abgeben müssen, in der Wirtschaftswachstum per se nicht die Antworten bietet, bedeutet das auch, dass es zu einem Austarieren, einem Neutarieren des Verhältnisses zwischen privaten und öffentlichen Interessen kommen muss.
Aber was verbirgt sich konkret hinter Ihrem Gedanken eines Neutarierens?
Prof. Adam Tooze: Unternehmen – und da spreche ich vor allem von riesigen Erfolgsgeschichten wie Huawei auf der chinesischen Seite, Apple auf der amerikanischen Seite oder auch deutschen Industriefirmen wie Siemens und BASF – solche Firmen, die weltweit über die Grenzen hinweg tätig sind, stehen jetzt vor ganz neuartigen Fragen, die nämlich auch geopolitische Fragen und eben auch eine Frage des Demokratieverständnisses sind. Ob Sie zum Beispiel zur Aufrechterhaltung von rechtsstaatlichen Normen auch in ihren globalen Aktivitäten stehen, in China zum Beispiel. Das sind Fragen, die man sich vor Jahren in dieser Form nicht stellen musste. Jetzt kann man ihnen nicht mehr ausweichen.
Ist es das, was Sie meinen, wenn Sie davon sprechen, dass Wirtschaftswachstum weder politisch noch geopolitisch unschuldig ist, wie Sie das ausdrücken?
Prof. Adam Tooze: Ganz genau. Wir sind lange Zeit der Vorstellung erlegen, man könne gewissermaßen das Private dem Privaten überlassen, dass hier weder politische noch rechtsstaatliche noch menschenrechtliche Normen im Spiel seien bei den großen Playern der Weltwirtschaft, den großen Investitionen, die viele Akteure zum Beispiel in China getätigt haben. Und dass eben im Grunde mit dem Wirtschaftswachstum längerfristig der Konvergenz gedient würde und sich dadurch in gewisser Weise eventuell entstehende Spannungen längerfristig auflösen würden. Das sind Dilemmata eventuell vergleichbar mit jenen, die wir in den 80er-Jahren mit Südafrika gehabt haben. Wir haben sie damals zunehmend durch Sanktionen und Boykott gelöst. Und die Frage ist natürlich, welche Verantwortung jetzt in der Gegenwart auf private Akteure zukommt und wie sie damit umgehen.
Am Ende, sagen Sie, hängt alles ab vom Managen der Spannungen zwischen den großen Blöcken USA und China. Da stellt sich natürlich die Frage: Wo bleibt Europa?
Prof. Adam Tooze: Ich habe das bezogen auf die gegenwärtigen Erfahrungen der letzten ein oder zwei Jahre, denn wir hatten – das sollte man nicht unterschätzen – einen Moment der wirklichen Gefahr Anfang 2023, als sich die Spannungen zwischen China und Amerika sehr schnell und sehr dramatisch zugespitzt haben. Was wir in der Folge auf beiden Seiten gesehen haben, ist die Bereitschaft, diese Spannungen irgendwie zu managen. Wie das längerfristig weitergehen kann, ist aber nicht abzusehen; das ist die Realität, mit der wir konfrontiert sind. Im Moment hilft sozusagen nur unmittelbares Management. Monat für Monat, Woche für Woche, Tag für Tag müssen dieses Problem und neu hinzukommende Probleme gelöst werden. Die Frage nach Europas Rolle in dieser Situation muss der Alte Kontinent wirklich für sich selbst beantworten. Man kann nicht darauf warten, von China oder Amerika die Lösung präsentiert zu bekommen.
Geht es etwas konkreter?
Prof. Adam Tooze: Europa muss bereit sein, Verantwortung für seine eigene Sicherheit und seine eigenen strategischen Entscheidungen zu übernehmen. Das ist die Herausforderung, vor der die Europäer jetzt stehen. Und zwar eben ohne die Prämisse zu haben, dass im Grunde Wandel durch Handel eintritt, ausgerechnet für Europa könne noch diese Logik funktionieren, über Investition, über Technologie, über Handel längerfristig dem Frieden zu dienen. Das allein reicht meiner Ansicht nach längst nicht mehr. Anders gesagt:?Es geht um eine neue Ortsbestimmung für Europa mit zum Teil, zugegeben, sehr schwierigen Entscheidungen, die es zu fällen gilt. Man kann natürlich versuchen, sich stärker mit Amerika zu assoziieren. Das ist das, was die derzeitige enorm europafreundliche Biden-Administration den Europäern nahegelegt hat. Wobei sich aktuell natürlich die Frage stellt, ob man das auch in Zukunft noch erwarten kann.
Was sagen Sie als ausgezeichneter Kenner der hiesigen Situation dazu, dass ausgerechnet Deutschland, gemessen am Bruttoinlandsprodukt, derzeit mit am schlechtesten dasteht? Was muss Ihrer Ansicht nach hierzulande passieren, um aus dieser Misere herauszukommen?
Prof. Adam Tooze: Eines dürfte doch im Grunde jedem klar sein:?Was Deutschland dringend braucht, das sind Investitionen, die sowohl von öffentlicher wie auch privater Seite kommen. Das ist im Grunde schon seit mehr als zehn Jahren ein Thema. Es sind solche Impulse, die fehlen, wenn man das im Aggregat betrachtet. Die Basis für Forschung in Deutschland ist sicher nicht schlecht, aber sie ist nicht so glänzend, dass man sich als ausländisches Unternehmen unbedingt in Deutschland ansiedeln müsste. Die Arbeitskräftesituation ist gut, aber eben nicht so gut, dass man dringend in Deutschland produzieren müsste. Und die Kosten sind hoch im Vergleich zu Ländern wie Polen oder anderen osteuropäischen Staaten. Gleichzeitig fehlt es an der Binnennachfrage, die schon lange absolut schwach ist. Deutschland lebt, makroökonomisch betrachtet, eben immer noch vor allem vom Export, und das schon seit fast 20 Jahren. Daher müsste gerade die angesprochene Binnennachfrage dringend und mehrdimensional gestützt werden.
Was meinen Sie mit mehrdimensional?
Prof. Adam Tooze: Dass es solcher Impulse nicht nur und zuvorderst von der öffentlichen Hand bedarf, auch privates Engagement ist dafür entscheidend. Aber man landet natürlich dabei am Ende immer bei der öffentlichen Hand, die die Rolle dieses Impulsgebers übernehmen muss. Deshalb kommt man als außenstehender Beobachter regelrecht ins Staunen, wenn Deutschland das einzige reiche Land, die einzige große Volkswirtschaft weltweit ist, die mit einem öffentlichen Schuldenstand von 60 Prozent dasteht, aber eine Fiskalpolitik betreibt, die tatsächlich auf einen Überschuss abzielt und in einer Art Reaktionsfunktion auf größere Defizite mit dem Versuch reagiert, diese Lücke möglichst schnell wieder zu schließen. Um sich dann in der Regierungskoalition in einem heillosen Streit über den Haushalt fürs nächste Jahr zu verlieren. Etwas Vergleichbares gibt es praktisch nirgendwo anders in der Welt, und das hat Konsequenzen – aber eben nicht nur im positiven Sinne für die Staatsfinanzen. Man darf sich dann am Ende auch nicht über einen verschwindend geringen Quotienten beim Bruttoinlandsprodukt wundern. Ich denke, da werden mir die meisten Makroökonomen zustimmen.
Dann sind Sie ganz offenbar kein Freund der Schuldenbremse, korrekt?
Prof. Adam Tooze: Verschuldung, das wissen wir aus dem Bereich von Unternehmen, sind kein Selbstzweck, sie sind immer eine bewusste Entscheidung im?Sinne der Bereitstellung von Mitteln zur Finanzierung. Und es kommt darauf an, was man vorhat, ob man mit den Schulden etwas Sinnvolles und in die Zukunft Gerichtetes finanziert. Wobei es ökonomisch gesehen im Moment schon fast egal ist, was Deutschland mit höheren Schulden machen würde. Ein Defizit im öffentlichen Haushalt würde die Nachfrage auf jeden Fall stützen, und das wäre insgesamt sicher zu begrüßen. Und im Fall von Deutschland muss man doch gar nicht groß herumrätseln, wo es denn eigentlich fehlt.
Was meinen Sie konkret?
Prof. Adam Tooze: Jeder weiß doch, dass es im Grunde an allen Ecken und Enden fehlt, allein schon in Bezug auf die Infrastruktur. Das erlebt man, wenn man wie ich oft in Deutschland unterwegs ist, geradezu regelmäßig. Und wir kennen alle die Berechnungen des Bundesverbands der Deutschen Industrie oder von Wirtschaftsforschern, bei denen sich im Grunde Arbeitnehmer- und Arbeitgeberseite einig sind. Die Zahl, die schon seit Jahren im Raum steht, das brauche ich doch Ihren Lesern nicht zu erklären, beträgt 400 Milliarden Euro, die es in den nächsten zehn Jahren an Investitionsmitteln benötigt, um die Infrastruktur wieder flott zu machen. Ein großer Teil davon kann natürlich aus dem privaten Bereich kommen und sollte das sicher auch. Aber auch die öffentliche Hand müsste natürlich mitziehen. Diese Hoffnung darf man aber wohl schnell wieder begraben, wenn man sich allein die aktuelle Misere bei der Deutschen Bahn anschaut. Die macht meiner Ansicht nach deutlich, als wie pervers – das ist wirklich das richtige Wort – sich dieses kameralistische Denken der deutschen Finanzpolitik erweist.
Warum ist pervers das richtige Wort?
Prof. Adam Tooze: Weil man am Ende für immer schlechteren Service immer höhere Tarife verlangen muss. Ticketpreise müssen nur deshalb steigen, weil man sich dazu entschlossen hat, das Problem aus dem Bundeshaushalt einfach herauszurechnen und auf die Bilanz der Bahn zu setzen, nur weil dann irgendwelche anderen Regeln greifen, die Deutsche Bahn aber eben gezwungen ist, ihr Defizit über höhere Ticketpreise wieder reinzuholen. Einem externen Beobachter muss das unweigerlich absurd erscheinen, weil es am Ende nichts anderes als fiskalische Spielereien sind, es aber im Grunde um strategische Infrastrukturen geht, die darüber entscheiden, wie ein Transportsystem für eine florierende, nachhaltige Wirtschaft in 20 Jahren aussehen soll. Aus diesem Grund befindet sich Deutschland aktuell wirklich in einer Selbstblockade, die angesichts enormer Herausforderungen ihresgleichen sucht, nicht nur bei wichtigen Grundlagen der Infrastruktur, sondern auch im Sicherheitsbereich, im Bildungsbereich und nicht zuletzt in Bezug auf seine Nachhaltigkeitsbilanz. Daher muss man sich wirklich fragen, wie lange Deutschland sich selbst noch im Wege stehen will, und vor allem, wie groß am Ende der Schaden sein wird.
Wir danken für das Gespräch!
Hans Heuser