Logo von Institutional Money
4/2024 | Theorie & Praxis

Das Große Wissensranking

Künstliche Intelligenz hat sich ihren Platz im akademischen Mainstream erkämpft. Zwei Arbeiten mit diesem Thema führen die 12-Monats-Spanne im Großen IM Wissensranking an. Ein Aufstieg in die Top Ten des Gesamtrankings steht kurz bevor.

Akademischer Aufstieg ist untrennbar mit wissenschaftlicher Publikation und ihrer Rezeption verbunden. Je aktueller und näher am Zeitgeist, desto eher wird das Paper wahrgenommen und zitiert. Es findet also eine Wechselwirkung zwischen Theorie und Praxis statt, die wir im Großen IM Wissensranking zu erfassen versuchen. 
Akademischer Aufstieg ist untrennbar mit wissenschaftlicher Publikation und ihrer Rezeption verbunden. Je aktueller und näher am Zeitgeist, desto eher wird das Paper wahrgenommen und zitiert. Es findet also eine Wechselwirkung zwischen Theorie und Praxis statt, die wir im Großen IM Wissensranking zu erfassen versuchen. © Southsticks | stock.adobe.com | generiert mit KI

Welche Rückkoppelungseffekte gibt es zwischen Theorie und Praxis? Welche Narrative erweisen sich als langfristig relevant, welche spiegeln nur Modeerscheinungen wider, die ebenso schnell vergessen werden, wie sie aufgekommen sind? Diese Frage stellt sich Institutional Money nun schon seit einiger Zeit; seit dem Vorjahr versuchen wir jedoch, die Antwort in einer methodischeren und zeitlich besser vergleichbaren Weise zu geben – und zwar in Form des großen IM Wissensrankings, das Sie nun in seiner zweiten Ausgabe vor sich haben. Die Vergleichbarkeit der Daten ist gewährleistet, da wir nur die gut zugänglichen und hochtransparenten Einträge der SSRN-Datenbank nutzen. Abgleiche mit anderen Datenbanken haben uns die Gewissheit gegeben, dass die Veröffentlichungen relevant sind. Auch die Auswertungen der globalen ­Zitierungen der Autoren korrelieren in hohem Maß mit ­anderen Quellen.

Während das historische Gesamtranking, die Analyse der vergangenen zwölf Monate, der Vergleich mit dem Stichprobenjahr 2014 und die Darstellung der gesamten Autoren­zitierungen gleich geblieben sind, haben wir das Ranking diesmal um die Auflistung der erfolgreichsten Universitäten – gemessen an den Zitierungen – ergänzt. Vorweg: Schmeichelhaft für Europa sind diese Daten nicht.

Doch damit genug zu den Rahmenbedingungen – an dieser Stelle wollen wir direkt in das Ranking eintauchen. Im historischen Gesamtvergleich (siehe Tabelle „Das Gesamtranking über zwei Jahrzehnte“) konnten die Top Vier ihre ­jeweiligen Positionen souverän verteidigen. Mit Respekt­abstand liegt dabei „A Brief Introduction to the Basics of Game Theory“ von Matthew O. Jackson an der Spitze. Meb Faber kann mit „A Quantitative Approach to Tactical Asset Allocation“ das drittplatzierte Papier um mehr als 100.000 Downloads distanzieren. Der spektakuläre Neueinstieg des Vorjahres, „Monetary Tightening and U.S. Bank Fragility in 2023: Mark-to-Market Losses and Uninsured Depositor Runs?“, rauschte damals mit mehr als 132.000 Downloads auf die vierte Position des All-Time-Rankings und hatte mehr als doppelt so viele Leser wie das zweitplatzierte Paper „Can ChatGPT Forecast Stock Price Movements?“, das es in den vergangenen zwölf Monaten immerhin noch in die Top Ten geschafft hat. Wie bemerkenswert dieser Neueinstieg damals war, zeigt sich daran, dass die aktuell stärkste Zwölfmonatsperformance – und zwar die des Papers ­„Financial Statement Analysis with Large Language Models“ – ebenfalls weit hinter den damaligen Downloads der ­Monetary-Tightening-Studie liegt.

KI komplett angekommen

Was die Auswertung der aktuellsten akademischen Trends jedenfalls zeigt, ist, dass das Thema künstliche Intelligenz endgültig im akademischen Bewusstsein angekommen ist (siehe Subranking „Die aktuellen Trends in der Finanzwissenschaft“). In den Top Ten finden sich vier KI-Themen wieder – und nicht nur unter „ferner liefen“, sondern auf den Plätzen eins und zwei.

Im bereits erwähnten Paper „Financial Statement Analysis with Large Language Models“ prüfen die Autoren, ob große Sprachmodelle (LLMs) Finanzanalysen ähnlich effektiv wie professionelle Analysten durchführen können. „In unserer Untersuchung erhält GPT-4 standardisierte, anonymisierte Finanzberichte und analysiert diese mit dem Ziel, die Richtung der künftigen Ertragsentwicklung von Unternehmen vorherzusagen“, so Co-Autor Maximilian Muhn. Sein Kol­lege Valeri V. Nikolaev meint, es sei „bemerkenswert, dass das Modell auch ohne narrative oder branchenspezifische Informationen die Fähigkeit der Analysten übertrifft, Ertrags­veränderungen präzise zu antizipieren.“ Besonders in komplexen Situationen, in denen Analysten üblicherweise an ­ihre Grenzen stoßen, zeigt das LLM laut den Studienergebnissen einen klaren Vorteil.

Die Ergebnisse weisen zudem aus, dass die Vorhersagege­nauigkeit des LLMs dem Niveau eines spezialisierten, fortschrittlichen Machine-Learning-Modells entspricht. „Die ­Fähigkeit basiert dabei nicht auf gespeicherten Trainings­daten, sondern auf seiner Kompetenz, wertvolle narrative Einsichten zur künftigen Unternehmensentwicklung zu gene­rieren. Darüber hinaus führen Handelsstrategien, die auf GPTs Vorhersagen basieren, zu höheren Sharpe Ratios und Alphas im Vergleich zu alternativen Modellen“, erklärt Co-Autor Alex G. Kim. Im Wesentlichen läuft die Arbeit also darauf hinaus, dass öffentlich zugängliche LLM-Modelle nicht weniger stark sind als hochproprietäre ML-Modelle, die eigens für diese Aufgabe trainiert wurden. Man könnte also von einer Demokratisierung der Finanz-KI sprechen.

Die Konstrukteurs-WM

Das Autorengespann wird übrigens komplett von der ­University of Chicago, Booth School of Business, gestellt. Dies erwähnen wir nicht nur der Vollständigkeit halber. Wie eingangs erwähnt, haben wir uns – ähnlich wie bei der Konstrukteurs-WM in der Formel 1 – angesehen, welche Insti­tute am häufigsten zitiert werden (siehe Tabelle „Die meist­zitierten Ökonomen“). Hier liegt besagte University of Chicago satte 40 Prozent vor der zweitplatzierten New York University (NYU) – Leonard N. Stern School of Business, die es seit Bestehen von SSRN auf immerhin 100.000 Zitierungen bringt.

Apropos NYU – dort demonstriert Robert J. Jackson jr., der nicht nur als Professor an der School of Law wirkt, sondern zeitweise im ersten Kabinett Trump als Commissioner der United States Securities and Exchange Commission tätig war, dass er und sein Co-Autor Joshua Mitts von der Columbia Law School wenig Angst vor kontroversen Themen ­haben. Das zeigt bereits der Titel ihres Papers, das in den vergangenen zwölf Monaten an fünfter Stelle der Downloads lag: „Trading on Terror?“ Das Fragezeichen am Ende hätte man genauso gut durch ein Rufzeichen ersetzen können, wie sich aus den Einschätzungen der Autoren selbst schließen lässt. Diese knüpfen an aktuelle Forschungsergebnisse an, die zeigen, dass informierte Händler zunehmend ihre Handelsaktivitäten in wirtschaftlich verbundenen Wertpapieren wie ETFs verschleiern. „Im Hinblick auf die bekannte Literatur über die Reaktionen der Finanzmärkte auf militärische Konflikte dokumentieren wir einen deutlichen Anstieg der Leerverkäufe des führenden israelischen Unternehmens-ETFs in den Tagen vor dem Hamas-Angriff am 7. Oktober.“ Das ­Volumen der Leerverkäufe an diesem Tag übertraf laut den Autoren das Handelsvolumen während zahlrei­cher anderer Krisenzeiten, darunter die Rezession nach der Finanzkrise, der Gaza-Konflikt 2014 und die Covid-19-Pandemie.

Ebenso haben die Autoren einen Anstieg der Leerverkäufe vor dem Angriff bei Dutzenden israelischen Unternehmen identifiziert, die in Tel Aviv gehandelt werden. Für ein israelisches Unternehmen „wurden demnach vom 14. September bis zum 5. Oktober 4,43 Millionen neue Aktien leerverkauft, was zu Profiten (oder zur Vermeidung von Verlusten) in Millionenhöhe führte – dies bei nur einem von Hunderten an der TASE gehandelten Wertpapieren. Auf den US-Börsen sehen wir zwar keinen generellen Anstieg der Leerverkäufe israelischer Unternehmen, jedoch eine starke und ungewöhnliche Zunahme im Handel mit riskanten kurzfristigen Optionen, die kurz nach den Angriffen ver­fielen. Ähnliche Muster traten im israelischen ETF auf, als Berichte über geplante Hamas-Angriffe kursierten“, so Mitts ergänzend.

„Unsere Ergebnisse deuten darauf hin, dass Händler, die über Informationen zu den bevorstehenden Angriffen verfügten, von diesen Ereignissen profitierten. Wir zeigen (…), dass solche Handelsaktivitäten Lücken der US-amerikanischen und internationalen Durchsetzung von Verboten des informierten Handels nützen“, so die Klage der Ökonomen.

Und die Fahrer-WM

Apropos Ökonomen: Ein Blick auf das Ranking der meist­zitierten Ökonomen (siehe Subranking „US-amerikanisches Monopol“) spiegelt das Uni-Ranking fast exakt wider. Neun von zehn Ökonomen wirken oder wirkten an renommierten US-Universitäten. Die einzige Ausnahme an der neunten Stelle ist Florencio Lopez-de-Silanes von der SKEMA Business School in Lille. Ein Blick auf sein erfolgreichstes ­Paper, „Investor Protection and Corporate Governance“, relativiert jedoch diesen Ausreißer. Die 1999 erstmals erschienene Arbeit, die rund 21.000 Downloads erreichte, wurde in einem Team um Andrei Shleifer verfasst, der laut diversen Rankings – und auch dem von SSRN – als meistzitierter Ökonom der Welt gilt. Dieses Muster wiederholt sich bei ­seinen nach Downloads sieben erfolgreichsten Veröffentlichungen. Erst sein achterfolgreichstes Paper aus dem Jahr 2023, „Limited Partners versus Unlimited Machines; Artificial Intelligence and the Performance of Private Equity Funds“, wurde ohne Shleifer publiziert.

Hans Weitmayr

Dieses Seite teilen