Neue Sicht auf Versicherungen
Ab 2023 können Versicherungsunternehmen erstmals nach den neuen Rechnungslegungsstandards IFRS 17 und IFRS 9 berichten. Das steigert die Transparenz des Versicherungsgeschäfts und erleichtert internationale Vergleiche.
Für Versicherungsunternehmen, die nach den International Financial Reporting Standards (IFRS) bilanzieren, gelten ab dem kommenden Jahr zwei wichtige neue Rechnungslegungsstandards. Der Bericht für das Jahr 2022 muss noch nach den Standards IFRS 4 und IAS 39 erfolgen, ab dem ersten Quartal 2023 gelten dann die neuen Standards IFRS 17 und IFRS 9.
Transparentere Darstellung
„An der Wirtschaftlichkeit des Versicherungsgeschäfts ändert die neue Rechnungslegung natürlich nichts, aber sie kann die Sichtweise auf einzelne Geschäftsbereiche ändern und helfen, das Versicherungsgeschäft besser zu verstehen“, erklärt Jan Wicke, Finanzvorstand von Talanx, in einer Präsentation des Hauses über die neuen Bilanzierungsvorschriften. „Insgesamt wird die Darstellung des Versicherungsgeschäfts unter IFRS 17 und IFRS 9 transparenter. Allerdings werden wir bei Versicherern künftig größere Schwankungen der Ergebnisse sehen“, so Wicke. Hierfür nennt er zwei Gründe: Der bedeutendere ist, dass ein Teil der Kapitalanlagen, die sogenannten SPPI-Fail-Assets, alle Wertschwankungen über die Gewinn-und-Verlust-Rechnung reporten. Der zweite, etwas weniger bedeutende ist, dass erwartete Verluste sofort bilanziert werden müssen, während erwartete Gewinne dagegen erst über die Zeit mit der Realisierung berichtet werden.
Durch die neue Rechnungslegung werden künftig die Cashflows, die sich aus den Versicherungsverträgen für den Versicherer ergeben, anders – nämlich realistischer – über die Perioden verteilt und ihnen wirtschaftlich zugeordnet. „Das macht bei lang laufenden Personenversicherungen einen deutlichen Unterschied“, erklärt Wicke.
Auch Dr. Carsten Zielke von der Zielke Research Consult GmbH in Aachen lobt die neuen Rechnungslegungsstandards: „Sie sind der HGB-Bilanzierung deutlich überlegen, weil sie eine holistische Betrachtung der Aktiv- und der Passivseite bieten. Damit wird es eine gleichatmende Bilanz auf der Aktiv- und Passivseite geben.“ Als Mitglied der EFRAG Insurance Accounting Working Group, die unter anderem die EU-Kommission bei den technischen Standards berät, hat er die Entwicklung von IFRS 17 seit 2001 begleitet und daran mitgearbeitet.
Zielke erklärt, warum die Einigung auf den neuen Standard über 20 Jahre in Anspruch genommen hat: „Die Produktgestaltung in den einzelnen Regionen ist sehr unterschiedlich, und der IFRS-Standard hat weltweite Gültigkeit. Es ist schwierig, so viele Länder unter einen Hut zu bekommen“, meint Zielke. Er erwähnt, dass insbesondere Frankreich über die Komplexität von IFRS 17 und IFRS 9 stöhnt. „Frankreich wollte lange Zeit gar keinen Standard haben. Dabei bestehen auch unter dem neuen Standard noch verschiedene Bilanzierungwahlmöglichkeiten für die Versicherungsunternehmen“, so Zielke.
Insgesamt würden die neuen IFRS-Bilanzen externen Analysten aber einen ziemlich guten Einblick in das Asset Liability Management eines Versicherungsunternehmens bieten, ist Zielke überzeugt.
Bisher Accounting Mismatch
Der bisher verwendete Rechnungslegungsstandard IAS 39 bewertet die Aktivseite, also die Kapitalanlagen eines Versicherers, weitgehend marktnah. Daran ändert sich auch unter IFRS 9 nicht viel.
Auf der Passivseite des Versicherers, auf der die Verpflichtungsseite abgebildet wird, findet die Schadenrückstellung bisher allerdings undiskontiert statt. „Ob wir einen Schaden jetzt oder erst in fünf Jahren zahlen müssen, ist nach dem jetzigen Bilanzierungsstandard egal“, erklärt Wicke. Entsprechend werden die Zinsschwankungen bislang von Periode zu Periode asymmetrisch nachvollzogen. „Unter IFRS 17 ändert sich bei einer Änderung des Marktzinses nicht nur die Aktivseite, sondern auch der Barwert der Verpflichtungen, also die Passivseite“, fährt Wicke fort.
Durch die Anwendung des neuen Rechnungslegungsstandards wird der Accounting Mismatch also aufgelöst, weil sich bei einer Zinsänderung beide Seiten – Aktiv- und Passivseite – am Marktwert orientieren. „Das hat auch den Vorteil, dass unsere neue Berichterstattung viel näher an der regulatorischen Berichterstattung Solvency II liegen wird“, meint Wicke, „denn unter Solvency II wird bereits heute auf beiden Seiten marktnah berichtet.“
Bei steigendem Zins müssen die Versicherungshäuser unter dem neuen Standard weniger für künftige Verpflichtungen zurückstellen, da der Zeitwert des Geldes besser berücksichtigt wird. Wicke verdeutlicht, wie viel das ausmachen kann: „Versicherungsunternehmen haben durch den Zinsanstieg seit Jahresanfang bis Jahresmitte über Rückgänge in ihrem Eigenkapital zwischen 23 und 29 Prozent berichtet, die fast ausschließlich auf den Accounting Mismatch unter der alten Rechnungslegung zurückzuführen waren.“
Insgesamt werde durch die neuen Rechnungslegungsstandards das Versicherungsgeschäft für externe Beobachter wesentlich verständlicher als bisher. „Das gilt insbesondere für das Lebensversicherungsgeschäft“, äußert sich Wicke positiv über den neuen Standard. „Auch was wir an Rückversicherungsschutz einkaufen, ist nach dem neuen Standard besser sichtbar, denn das wird eine Pflichtangabe.“
Auch Rötger Franz gewinnt dem neuen Standard viel Positives ab: „Insbesondere niederländische und deutsche Versicherer werden von der neuen Transparenz profitieren. Dort wird der Accounting Mismatch infolge des neuen Reportingstandards am deutlichsten zurückgehen.“ Er ist Partner beim Asset Manager Plenum Investments. Mit seinem Plenum European Insurance Bond Fund investiert er gezielt in Nachranganleihen europäischer Versicherer und beschäftigt sich daher als Portfoliomanager und Senior Insurance Analyst mit der Analyse von Versicherungsunternehmen.
Neuer Gewinnspeicher: CSM
Besonderes Augenmerk werden Versicherer und Versicherungsanalysten künftig auf den „Contractual Service Margin“ (CSM) legen, der durch den neuen Standard eingeführt wird. Dabei handelt es sich um eine Art Bruttogewinnspeicher. „Der CSM wird künftig eine sehr interessante Größe sein. Hier müssen die Versicherer im Vorhinein abschätzen, wie viel sie über die Gesamtlaufzeit eines Vertrags verdienen. Sie zeigen das anfangs auf und schneiden anschließend sozusagen jedes Jahr ein Scheibchen des Gewinns herunter“, erklärt Zielke, wie der CSM funktioniert. „Bislang musste man Schätzungen anstellen, wie die Neugeschäftsmarge aussieht. Als externe Analysten haben wir versucht, das nachzuvollziehen. Künftig gibt es einen richtigen Standard dafür, was wirklich begrüßenswert ist.“
Auch international führe der CSM zu einer besseren Vergleichbarkeit. Trotzdem sieht Zielke immer noch genügend Spielräume für Versicherungsunternehmen: „Auch unter IFRS 17 wird es Häuser geben, die konservativer bewerten als andere. Solche unternehmensindividuellen Annahmen können externe Analysten dann immer noch betrachten.“
Rötger Franz wird den CSM künftig ebenfalls unter die Lupe nehmen. „Bisher hat noch kein Analyst eine IFRS-17-Bilanz gesehen, daher muss man abwarten, wie viel Neues man dann wirklich erkennen kann. Was wir aber auf jeden Fall betrachten werden, sind neue Bilanzpositionen, die durch IFRS 17 eingeführt werden, wie zum Beispiel den CSM. Hier werden wir uns ansehen, wie hoch diese Zahl ist und wie sie sich im Zeitablauf tatsächlich verhält. Daraus lassen sich neue Performanceindikatoren ableiten“, freut sich Franz über die zusätzlichen Informationen. Die Versicherer müssen den CSM aufsplitten, sodass sich erkennen lässt, welches Geschäft wie stark zum Ergebnis beigetragen hat.
Andere Darstellung der LV
Auf die Steuerung des Neugeschäfts durch die Versicherer werden sich die neuen Vorschriften ebenfalls auswirken. „Durch IFRS 17 wird der Zeitwert des Geldes stärker betont. Dadurch können wir künftig das Schreiben des Neugeschäfts stärker an der Profitabilität der Verträge orientieren“, erklärt Wicke. Zielke interpretiert das für die Praxis so: „Nach dem neuen Rechnungslegungsstandard stellen sich langlaufende Verträge besonders profitabel dar. Das gibt den Versicherern einen Anreiz, langfristige Altersvorsorgeprodukte stärker zu pushen als bisher.“ Nach IFRS 4 werden die vollen Prämieneinnahmen als Umsatz gebucht (gebuchte Bruttoprämie). Damit werden im Lebensversicherungsgeschäft auch die Sparanteile als Versicherungsumsatz ausgewiesen, was eine verzerrte Darstellung ist. Schließlich sind die Sparanteile später an die Versicherten auszuzahlen und stellen keinen Gewinn des Versicherers dar. „Das ist so, als würde eine Bank ihre gesamten Kundeneinlagen als Umsatz verbuchen. Sie bucht aber nur die Verwahrgebühr als Umsatz“, zieht Wicke einen Vergleich und ergänzt: „Gemäß IFRS 17 dürfen künftig die Sparanteile im Lebensversicherungsgeschäft nicht mehr als Versicherungsumsatz ausgewiesen werden.“ Sein Kollege Bas de Vries, Head of Group Controlling & Finance bei der Talanx AG, ergänzt: „Mit Anwendung von IFRS 17 haben wir keine gebuchte Sicht mehr, sondern eine verdiente Sicht. Wir betrachten nicht mehr die gebuchte Bruttoprämie, sondern den Versicherungsumsatz. Der wird dann künftig niedriger sein als die gebuchte Bruttoprämie unter IFRS 4.“ Das fondsgebundene Lebensversicherungsgeschäft mit seinem Ergebnis wird künftig separat aufgeführt. „Damit wird deutlich, dass die Entwicklung der Versicherungsfonds keinen direkten Einfluss mehr auf das Ergebnis des Versicherers hat“, so de Vries. Rötger Franz hingegen hält den Einfluss des neuen Standards auf die Zusammensetzung des Neugeschäfts für überschaubar: „Das Neugeschäft ist zu einem großen Teil durch regulatorische Kapitalanforderungen getrieben, das heißt, Versicherer schauen zuerst auf ihre Solvency-II-Bilanz und dann auf ihre IFRS-Bilanz.“ Die Solvenzregulierung habe bereits dazu geführt, dass die Versicherer das Geschäft mit langfristigen Garantien meiden. „Die klassische Kapitallebensversicherung ist unter Solvency II sehr kapitalintensiv geworden. Daher haben die Unternehmen hier das Neugeschäft massiv zurückgefahren und fokussieren sich jetzt auf das fondsgebundene und das Risikogeschäft“, erklärt Franz und stellt klar: „Das ist ökonomisch auch sinnvoll. Langfristige Garantien haben ihren Preis. Daher ist es richtig, wenn sie auch entsprechend mit Kapital zu hinterlegen sind.“ Auch die meisten Analysten fokussierten sich überwiegend auf die Betrachtung der Solvency-II-Bilanz. „Daher wird die große Aufgabe für die nächsten 25 Jahre sein, die Unterschiede zwischen IFRS und Solvency II beziehungsweise anderen Aufsichtsregimes auszugleichen“, meint Franz.
Teure Umstellung
Billig ist die Umstellung auf die neue Rechnungslegungsvorschrift nicht. Die Versicherungshäuser bereiten sie bereits seit Langem vor, und der Aufwand ist immens. Den Gesamtaufwand für die Talanx-Gruppe beziffert Jan Wicke auf über 100 Millionen Euro. Ein anderer großer Versicherer spricht von über 40 Millionen Euro und einer „erheblichen Bindung von Ressourcen“ für die Umstellung.
Franz kann erklären, warum der Aufwand so hoch ist: „Die Versicherer haben über Jahre nach IFRS 4 bilanziert. Nun braucht man komplett neue Rechnungslegungssysteme, und die Mitarbeiter in den Accounting Departments der Versicherer müssen auf die neuen Reportingstandards geschult werden.“ Außerdem seien andere Daten zu erfassen als in der Vergangenheit und diese anders zu bearbeiten. „Die Häuser werden künftig auch andere Entscheidungen hinsichtlich ihrer Bilanzpolitik treffen“, meint Franz.
Künftig höhere Bewertung?
Trotz des hohen Aufwands spricht vieles dafür, dass sich dieser am Ende lohnt. „IFRS 17 und IFRS 9 stellen die Vermögenslage eines Versicherers fairer dar als die HGB-Bilanz. Diejenigen Häuser, die zusätzlich zur HGB-Bilanz eine IFRS-Bilanz erstellen, sollten daher einen Vertrauensbonus vom Kunden erhalten“, macht sich Zielke für Unternehmen stark, die künftig nach beiden Standards bilanzieren. Auch die Vergleichbarkeit der Versicherungsgesellschaften mit anderen Branchen steigt durch die neue Darstellung. „Ich kann mir daher vorstellen, dass durch die neue Rechnungslegung die Kapitalkosten der Versicherer künftig sinken werden und sich der Bewertungsabschlag gegenüber anderen Branchen reduziert“, meint Zielke. Schließlich verpflichtet der neue Rechnungslegungsstandard die Versicherungshäuser auch zu umfangreichen Anhangangaben, aus denen besser ersichtlich ist, welche Produkte für das Haus aktuell profitabel sind und welche nicht. Daher wünscht sich auch Wicke: „Diese höhere Transparenz wird dann hoffentlich auch die Unterbewertung der Versicherungsbranche am Aktienmarkt beheben.“ Zumindest auf mittlere Sicht rechne er damit.
Sektorprämie schmilzt
Franz ist skeptisch, dass sich die gestiegene Transparenz schnell in geringere Kapitalkosten übersetzen lässt: „Versicherungen bleiben komplex in der Analyse und man benötigt spezifisches Branchenwissen, um sie in der Tiefe zu verstehen.“ Weil Versicherungsanleihen nur etwa fünf Prozent des All European Bond Index ausmachen, gebe es nicht viele Analysten und Asset Manager, die sich auf Nachranganleihen von Versicherungen spezialisieren, wie es beispielsweise Plenum Investments tut. Auch wenn die Transparenz künftig steigt, seien Versicherungsunternehmen für Generalisten immer noch nicht leicht zu durchdringen. „Financials-Analysten und Portfoliomanager kaufen lieber Banken, und vielleicht auch noch eine Allianz-Anleihe, aber dann ist meistens Schluss“, beobachtet Franz. Seiner Meinung nach werde der Markt daher kurzfristig keine niedrigeren Spreads akzeptieren. „Noch haben Nachranganleihen von Versicherungen deutliche höhere Spreads als Unternehmen anderer Branchen“, erklärt er, über die nächsten drei bis vier Jahre könne es jedoch dazu kommen, dass die Spreads von Versicherungsanleihen ein wenig enger werden. „Dann hat der Markt schon zwei oder drei Bilanzen nach den neuen Rechnungslegungsstandards gesehen. Das führt dann womöglich zu einem kleinen Tightening“, so Franz. Die größten Spread-Anpassungen erwartet er bei Unternehmen mit einem hohen Anteil des Lebensversicherungsgeschäfts, da diese am stärksten von den Änderungen betroffen sein werden. Auf mittel- und langfristige Sicht werden Versicherungsanleihen aber immer noch höhere Spreads aufweisen als andere Sektoren. „Künftig werden wir als Versicherungsunternehmen ein stabileres Eigenkapital ausweisen können“, erklärt Bas de Vries. Der Grund: Der Accounting Mismatch zwischen Aktiv- und Passivseite, der bisher bei allen Zinsbewegungen für erhebliche Eigenkapitalschwankungen verantwortlich war, wird weitestgehend beseitigt. Die einzelnen Sparten seien unterschiedlich betroffen. „Im Schaden-Unfall-Geschäft wird das Eigenkapital vermutlich höher ausfallen als bisher, im Lebensversicherungsgeschäft wird es deutlich sinken“, so de Vries. „Per Saldo erwarten wir durch die Umstellung für die gesamte Talanx-Gruppe ein reduziertes Eigenkapital zum Umstellungszeitpunkt.“
Einfluss auf die GuV
Er bereitet den Markt darauf vor, dass die Gewinn-und-Verlust-Rechnung (GuV) von Versicherungen unter IFRS 17 und IFRS 9 eine höhere Volatilität aufweisen wird als bisher. De Vries erläutert den Grund: „Unter IFRS 9 bilanzieren wir für einen größeren Teil der Kapitalanlagen alle Wertschwankungen über die Gewinn-und-Verlust-Rechnung, statt diese nur in einer nicht ergebniswirksamen Veränderung des Eigenkapitals auszuweisen.“ Auch wenn IFRS in den meisten Ländern angewandt wird, sieht Franz immer noch Schwierigkeiten bei internationalen Vergleichen. „Da gibt es nach wie vor große Unterschiede. US-Versicherer bilanzieren überwiegend nach GAAP, und es gibt vor allem in der Lebensversicherung weltweit große Unterschiede in der Produktgestaltung und Regulierung. Die Credit Quality eines US-Versicherers mit einem britischen und einem chinesischen Versicherer zu vergleichen, bleibt weiterhin eine Herausforderung“, so Franz.
Anke Dembowski