»Wir sollten die Avantgarde sein, die Pioniere«
Sabrina Grassi ist die erste turnusmäßige Präsidentin des Stiftungsverbands SwissFoundations und gleichzeitig Generaldirektorin der Swiss Philanthropy Foundation. Damit ist sie die derzeit einflussreichste Stiftungsmanagerin der Schweiz.
Es ist einer dieser heißen Spätsommertage in Genf. Der Zug hat uns direkt ins Zentrum der Stadt geführt. Beton und Stein verwandeln die Place de Cornavin in einen veritablen Backofen, die Kühle des Genfer Sees ist hier bestenfalls eine ferne Erinnerung. Hier hat die Schweizer Stiftung Swiss Philanthropy Foundation ihr Büro im vierten Stock. Der Aufstieg ist schweißtreibend, das Sakko fällt nach der Hälfte des Weges. Man ist überpünktlich, die Schweizer Fotografin, die das Interview begleiten wird, die Generaldirektorin der Stiftung, Sabrina Grassi, und die Pressesprecherin sind jedoch noch pünktlicher. Grassi und die Fotografin diskutieren gerade in diesem weichen Genfer Französisch, was sie am Set stört – der Stehtisch des Anstoßes wird von den beiden kurzerhand gepackt und in eine Ecke getragen, wo er unauffällig den Rest des Treffens überdauern wird.
Grassi scheint die Hitze nichts auszumachen. Frisch und konzentriert erklärt sie, dass das Interview für sie in Deutsch ein wenig schwierig sei. Deutsch ist nur ihre vierte Sprache. Metaphorisch gesehen trägt sie an diesem Tag zwei Hüte: zum einen den als Generaldirektorin der Swiss Philanthropy Foundation, zum anderen den als erste Rotationspräsidentin des Schweizer Stiftungsverbands SwissFoundations.
„Worüber wollen Sie zuerst reden?“, fragt sie. Zunächst darüber, wieso sie nur für ein Jahr Präsidentin des Stiftungsverbands ist und was sie von einer „lame duck“ unterscheidet.
Sabrina Grassi: „Die Frage bekomme ich öfter gestellt. ‚Ein Jahr. Ist das nicht zu wenig?‘ Ich sehe das nicht so. Ich sehe meine Aufgabe eher als Impulsgeberin und Begleiterin. Nach meiner Amtszeit bin ich ja weiterhin da, so wie der Rest des Vorstands, idealerweise im Strategieausschuss. Wenn Sie wollen, sehe ich die Turnuslösung als eine Art Risikomanagement. Gewisse Dinge können sich weniger festfahren, der Input bleibt frisch.“
Grassi ist also die erste turnusmäßige Präsidentin des Stiftungsverbands. Dieser ist jünger als die zweite und größere Interessenvertretung proFonds, von der sich SwissFoundations im Jahr 2001 abgespaltet hat. Die Organisation verfügt über zwei Geschäftsstellen, eine in Zürich, die zweite in Genf. Seit 2015 konnte man die Zahl der Mitglieder per 2021 von 127 auf 205 steigern. Das kombinierte vertretene Ausschüttungsvolumen konnte dementsprechend ebenfalls ungefähr verdoppelt werden:?von 480 Millionen auf mehr als eine Milliarde Franken jährlich.
Zum Zeitpunkt des Interviews hat Grassi die Position als Präsidentin seit drei Monaten inne. In voraussichtlich zwei Jahren plant man, das neue Turnusmodell der Verbandspräsidentschaft formell zu prüfen. In der Zeit werden mehr als 100 Sitzungen koordiniert worden sein. Die nötige Erfahrung für eine derartige Aufgabe bringt Grassi durch ihre Funktion bei der Philanthropy Foundation jedenfalls mit.
Sabrina Grassi: „Ich bin seit acht Jahren bei der Swiss Philanthropy Foundation. Damals war ich die einzige Angestellte. Das ist für eine Stiftung in der Schweiz nichts Ungewöhnliches. Wir haben in der Schweiz mit 13.000 Stiftungen und einem kumulierten Stiftungsvermögen von 140 Milliarden Franken die höchste Stiftungsdichte pro Kopf. Manche Stiftungen sind sehr groß, viele jedoch sehr klein. Da gibt es dann oft nur den Stiftungsrat selbst. Bei 80 Prozent der Fälle ist das genauso. Bei der Swiss Philanthropy Foundation sind wir aber inzwischen zwölf Angestellte.“
Grassi hat die Zahlen zum Schweizer Stiftungssektor jederzeit parat. Einer der Gründe dafür ist, dass der Verband seit 2016 jährlich einen Report herausgibt, der über das Anlageverhalten der im Verband vertretenen Stiftungen Bericht erstattet.
Sabrina Grassi: „Der SwissFoundations Benchmark Report bietet wichtige Denkanstöße, die wiederum zu einer professionellen Vermögensverwaltung beitragen. 2023 haben sich 46 Mitglieder von SwissFoundations mit einem Vermögen von 10,1 Milliarden Franken beteiligt. Damit wurde ein neuer Teilnehmerrekord erreicht. Ende 2022 halten die teilnehmenden Stiftungen im Durchschnitt 41 Prozent ihres Vermögens in Aktien, 22 Prozent in Immobilien, 18 Prozent in Obligationen, zehn Prozent in Alternatives sowie sonstigen Anlagen und neun Prozent in liquiden Mitteln. Je nach Größe haben die teilnehmenden Förderstiftungen ihr Vermögen unterschiedlich investiert. Kleine Förderstiftungen halten im Durchschnitt mehr Liquidität, mittlere Stiftungen dafür im Vergleich am meisten Aktien. Große Förderstiftungen halten im Durchschnitt mit 22 Prozent deutlich mehr Immobilien als die übrigen Stiftungen. Dies könnte unter anderem damit erklärt werden, dass große Förderstiftungen eher die Möglichkeit haben, Immobilien als Direktanlagen zu halten.“
Für die Stiftungsmanagerin persönlich ist jedenfalls das Ausschüttungsvolumen und nicht so sehr das Volumen des verwalteten Vermögens die relevanteste Kennzahl einer Stiftungsbilanz.
Sabrina Grassi: „Jede Stiftung existiert in diesem Spannungsfeld aus Verwaltung des Vermögens und dem Stiften, also dem Ausgeben, selbst. Das verwaltete Vermögen ist selbstverständlich auch eine wichtige Kennzahl. Für mich im gemeinnützigen Bereich stellt sich aber gerade im aktuellen Umfeld die Frage nach dem „Jetzt“. Wir leben genau jetzt in herausfordernden Zeiten und müssen jetzt die entsprechenden Weichen stellen – egal ob es um gesellschafts- oder klimapolitische Fragen geht. Was ist wichtiger, was ist relevanter? Ich glaube, dass wir uns gerade an einem sehr wichtigen Punkt befinden. Gesellschaftliche Friktionen, Radikalisierung, Klimawandel – wenn wir die Gelder nicht jetzt verwenden, wann dann?“
Dazu passt das Bild in ihrem spartanisch und dennoch persönlich eingerichteten Arbeitszimmer. Es handelt sich um eine Collage, die die Kollegen von der „Bilanz“ einmal für einen Artikel über die Swiss Philanthropy Foundation entworfen haben.
Sabrina Grassi: „Links oben sehen sie ein offenes Herz, dazwischen jemanden, der studiert, und rechts jemanden, der rechnet. Ich glaube, das erfasst Philanthropie ganz gut. Es geht um Wirkung, es geht um professionelles Management, aber am Anfang steht bei uns immer das Herz.“
Zu Beginn also das Herz und am Ende des Prozesses der Kopf. Grassi erzählt das erst am Ende des Interviews. Wahrscheinlich aus gutem Grund. Denn wenn man die DNA ihres Hauptjobs in der Philanthropy Foundation nicht kennt, bestünde die Gefahr, derartige Aussagen als pathetisch misszuverstehen. In gewisser Weise kann die Stiftung jedenfalls als „Ermöglicherin“ verstanden werden.
Sabrina Grassi: „Tatsächlich bieten wir Stiftern eine Art Umsetzung im gemeinnützigen Bereich an. Denn es ist in der Schweiz relativ leicht, eine Stiftung zu gründen. Es ist aber nicht mehr so leicht, ein solche Stiftung auch effizient und professionell zu führen. Und hier kommen wir ins Spiel.“
Das Modell der Philanthropy Foundation besteht im Kern darin, potenziellen Stiftern eine Dachorganisation zur Verwaltung des eingebrachten Vermögens anzubieten. Dies funktioniert über Fonds, die gemäß den Kriterien der Dachstiftung gegründet und gemanagt werden. Hier gibt es diverse Möglichkeiten: Beispielsweise kann man das Vermögen über eine personalisierte Namensstiftung einbringen. Die Strategie und der Stiftungszweck werden vom Spender bestimmt, das tägliche Geschäft übernimmt die Dachstiftung. Eine zweite Variante besteht darin, die bereits bestehenden Themenfonds zu unterstützen.
Sabrina Grassi: „Die Anbindung an einen Themenfonds ermöglicht es, gemeinsam mit anderen Philanthropen einen wohltätigen Zweck zu unterstützen, von einem professionellen Projektmanagement zu geringeren Kosten zu profitieren, vielfältige Erfahrungen zu sammeln und das eigene Wissen im gewählten Themenbereich auszubauen.“
Hier gibt es vier große Themenblöcke: erstens den Bereich „Bildung und Beschäftigung für Jugendliche“. Dieser im Jahr 2015 geschaffene Fonds zielt auf die weltweite Förderung der Bildung und Beschäftigung von Jugendlichen ab. Mit diesem Vehikel werden derzeit Projekte in Lateinamerika, Afrika und Asien unterstützt. Zweitens das Thema „Soziale Wirkung“. Der im Jahr 2013 geschaffene Fonds für soziale Wirkung zielt darauf ab, die Lebensbedingungen von benachteiligten Einzelpersonen und Gruppen zu verbessern. Er ist weltweit aktiv, die Hauptaktivitäten konzentrieren sich auf Lateinamerika, Afrika und Asien. Ein weiterer, etwas allgemeinerer Bereich beschäftigt sich mit der „Förderung der Philanthropie“. Dieser im Jahr 2012 geschaffene Fonds zielt darauf ab, das Philanthropie-Engagement zu fördern. Die Förderung der Philanthropie deckt verschiedene Aspekte – etwa Treffen zwischen Philanthropinnen und Philanthropen oder die Entwicklung des Wissens im Bereich der Philanthropie – ab. Und letzten Endes besteht die Möglichkeit, sich für das Thema „Gesundheit“ zu engagieren. Dieser im Jahr 2009 geschaffene Fonds zielt insbesondere auf die Unterstützung der medizinischen und wissenschaftlichen Forschung und von Projekten zur Verbesserung des Gesundheitszustands schutzbedürftiger Bevölkerungsgruppen in der ganzen Welt ab.
Die Koordinierung diese Felder klingt nach viel Arbeit – ist es auch. Noch mehr Arbeit hatte man aber während der Pandemie, die der Stiftung jedoch auch auf mehreren Ebenen einen Wachstumsschub ermöglichte.
Sabrina Grassi: „Wir haben wie viele andere auch einen enormen Sprung bei der Digitalisierung gemacht und gleichzeitig gemerkt, dass unsere Lösungen, unsere Beratung, Begleitung und Expertise verstärkt gesucht wurden. Einen weiteren Impuls und eine deutliche Erhöhung des Bekanntheitsgrades hat uns dabei auch die Zusammenarbeit mit den Vereinten Nationen bei der Bekämpfung von Covid-19 gebracht. In Kooperation mit der WHO und der United Nations Foundation haben wir den Covid-19 Solidarity Fonds gegründet. Der Fonds wurde von 676.000 Spendern mit einem Volumen von 256 Millionen US-Dollar ausgestattet und ist in weiterer Folge Kooperationen mit anderen Referenzinstitutionen wie unserem europäischen Partner im Netzwerk Transnational Giving Europe, um europäische Spenden zu sammeln, aber auch mit dem Japan Center for International Exchange oder der China Population Welfare Foundation eingegangen. Ziel war es unter anderem, Ländern bei der Prävention, Erkennung und Bewältigung der Covid-19-Pandemie zu helfen – insbesondere dort, wo der Bedarf am größten war – und die Pandemie so effizient und schnell wie möglich zu bekämpfen.“
Dass ausgerechnet die Philanthropy-Stiftung von der UNO?kontaktiert wurde, hat mehrere Gründe. Zum Ersten hat man einen Partner gesucht, der in Europa gut vernetzt und in der Arbeit und Koordination mit Spendern versiert ist. Und dann war da noch die geografische Lage in der UN-Stadt Genf. Man kannte Grassi bereits im Vorfeld, das hat die Entscheidung zur Kooperation erleichtert.
Letzten Endes hat die Stiftung aber mit ihrer Covid-19-Initiative eine Aufgabe übernommen, die traditionell der staatlichen Verantwortung unterliegt – womit wir bei der Diskussion um „Privat vs. Staat“ angelangt wären. Man denkt in diesem Zusammenhang sofort an die Gates-Stiftung und andere Initiativen, die als Argument dafür dienen, dass Private ihre Gelder im Gemeinwohl besser einsetzen als der Staat – in weiterer Folge wird das dann als eines der Hauptargumente für niedrige Steuersätze herangezogen. Wie sieht Grassi dieses Diskussion?
Sabrina Grassi: „Das ist eine schwierige Frage. Ich persönlich glaube nicht, dass Stiftungen oder ähnliche Institutionen staatliche Aufgaben im breiten Umfang übernehmen können oder sollen. Aber der Vorteil, den Stiftungen haben, ist, dass sie mutiger und risikofreudiger agieren können – nicht nur risikofreudiger als der Staat, sondern auch als private Unternehmen, da wir ja keinem Profitgedanken unterliegen. Das trifft beispielsweise auf den Bereich der Forschung zu, wo wir Projekte fördern können, deren Chancen auf Realisierung zu niedrig sind, um ein wirtschaftliches Risiko zu rechtfertigen. Gelingt ein solches Projekt, so sind die sozialen Renditen enorm. Wenn Sie so wollen, können Stiftungen als Avantgarde, als Pioniere für diverse Themen fungieren.“
Womit sich der Kreis zum Stiftungsverband SwissFoundations schließt. Denn Grassi legt im Gespräch immer wieder Wert darauf, die Stoßrichtung der Interessenvertretung darzulegen. Diese geht über eine reine Vertretung gegenüber den Stakeholdern in Staat und Gesellschaft hinaus.
Sabrina Grassi: „Uns ist die Professionalisierung des Sektors ein enorm wichtiges Anliegen. Nicht nur bei der Erfüllung des Stiftungszwecks, sondern beispielsweise auch im Asset Management. Hier gibt es inzwischen hoch sophistizierte Methoden, die natürlich auch ein gewisses Know-how vor-aussetzen. Das ist einer der Gründe, weshalb wir den Benchmark Report herausgeben. Er soll Orientierung und Input in komplexen Zeiten bieten.“
Ein Blick auf die Uhr zeigt, dass man den Time Slot für das Gespräch bereits überzogen hat. Für den Redakteur gilt es, seinen Rückflug zu erwischen, davor stehen noch ein paar Fotos an. Fotos – nicht jedermanns Sache. Die Stiftungsvorständin zuckt jedoch mit keiner Wimper, drängt nicht, folgt den Tipps der Fotografin, agiert als Vollprofi. Man könnte sagen, dass sie vorlebt, was sie für den Sektor erreichen will – anscheinend in jeder Situation, selbst wenn sie ungewohnt ist.
Hans Weitmayr