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3/2018 | Produkte & Strategien

Wer hat’s erfunden?

Der Begriff ESG hat mit 2004 ein Geburtsjahr und mit Ivo Knoepfel einen Schöpfer. Institutional Money hat interessiert, wie der Schweizer Finanzstratege denkt, wie sich das Konzept nach den ersten Geburts­wehen aus seiner Sicht entwickelt hat – und was er eigentlich von Akronymen hält.

Der Finanzstratege in seinen Zürcher Büroräumlichkeiten – dass sich diese relativ weit entfernt vom Bankenviertel der Stadt befinden, darf als bewusst ausgesandtes Signal gewertet werden. Die Lampe als Heiligenschein zu interpretieren wäre allerdings übertrieben.
Der Finanzstratege in seinen Zürcher Büroräumlichkeiten – dass sich diese relativ weit entfernt vom Bankenviertel der Stadt befinden, darf als bewusst ausgesandtes Signal gewertet werden. Die Lampe als Heiligenschein zu interpretieren wäre allerdings übertrieben.Fanny Taboada

Kennen Sie Jim O’Neill? Möglicherweise schon. Immerhin war er unter anderem Chairman von Goldman Sachs ­Asset Management und Minister im Kabinett des ehemaligen britischen Premierministers David Cameron. Aber, Hand aufs Herz: Wie viele Minister aus der Ära Cameron kennen Sie noch – und wie viele ehemalige Chairmen von Goldman Sachs Asset Management? Tatsächlich ist O’Neill vor allem für ein ganz anderes Faktum bekannt: Er hat den Begriff BRIC erfunden – was ein ziemlicher Wurf war, hat er doch das Verhalten von ­Investoren weltweit geprägt und be­einflusst. Wer wäre zuvor auf die Idee gekommen, Brasilien und China derselben quasigeogra­fischen Region zuzuordnen und entsprechende Portfoliostrategien zu ent­wickeln?

Initialzündung

Ein Akronym, das die Investmentwelt noch tiefgreifender, wenn auch nicht so pub­likumswirksam verändert hat, lautet ESG – also „Environmental, Social and Corporate Governance“. Doch dieses ESG – und somit ein ganzes Anlageuniversum –, wer hat’s ­eigentlich erfunden? Die Antwort lautet: „Ja, tatsächlich, ein Schweizer.“ Konkret handelt es sich um den inzwischen als Consultant ­tätigen Ivo Knoepfel.

Zugetragen hat sich das im Jahr 2004. Für die Vereinten Nationen erstellte er im Auftrag des mittlerweile verstorbenen Generalsekretärs Kofi Annan die Studie „Who Cares Wins“. In diesem Papier wurde zum ersten Mal das Akronym ESG verwendet. Auf Knoepfel selbst finden sich jedoch kaum Hinweise. Sucht man nach ESG und seiner Geschichte, taucht der Name in den großen digitalen Nach­schlagewerken gar nicht auf. Erst die Lektüre angelsächsischer Wirtschaftsmedien liefert Hinweise – dass diese sporadisch auftreten, wäre übrigens eine Übertreibung: Wir sprechen hier von einer Trefferanzahl im niedrigen einstelligen Bereich.

Wie aber tickt ein Mensch, der ein Konzept von globaler Bedeutung entwickelt hat und die Weitsicht besaß, es in ein marketingtaugliches Akronym zu gießen, selbst aber ­einer breiten Öffentlichkeit gegenüber unbekannt ist? Um diese Frage zu beantworten, haben wir Knoepfel an seiner aktuellen Wirkungsstätte in Zürich besucht.

Seine Zelte aufgeschlagen hat Knoepfel mit seiner Firma Onvalues aber nicht im ­Finanzdistrikt der Stadt, sondern nahe der Langstrasse – in einer Gegend, die das ausstrahlt, was man gemeinhin als Berlin-Flair bezeichnet: Jede Menge Lokale säumen die Straßen, alternative Fahrradläden findet man hier, Möbelboutiquen, die eine Fusionsstra­tegie aus Antiquariat und Designschuppen verfolgen, prägen das Stadtbild. Knoepfel wird uns später erzählen, dass „der Standort bewusst gewählt wurde. Wir wollen damit ein Zeichen setzen, dass wir uns eben nicht mit der herkömmlichen Finanzindustrie identifizieren.“

Genau hier treffen wir also den Onvalues-Chef, von dem uns schnell klar wird, dass er gern zuerst analysiert, seine Schlüsse zieht und erst dann seine Meinung zum Besten gibt – ein bedachter Mann, der langfristig denkt und fast schon schmerzhaft uneitel wirkt. Gleich zu Beginn unseres Treffens fragen wir ihn, ob es diese eine Person, auf die der Begriff ESG zurückzuführen sei, wirklich gebe, und ob es sich dabei um ihn handle. Knoepfel antwortet mit einem fast peinlich berührten, sehr in die Länge gezogenen „Ja, das stimmt“. Im Jahr 2003 hatte Kofi Annan die Reports des UN Global Compact gewogen und für zu leicht befunden: Die Berichte ­bezogen sich auf alle Branchen – mit Ausnahme der Finanzindustrie. „ Annan erkannte aber schon damals, welche Tragweite die Finanzwirtschaft hat und welchen Einfluss auf die Umwelt“, erinnert sich Knoepfel. Also schrieb Annan eine Studie aus, die den Einfluss der Finanzindustrie auf Umwelt und Gesellschaft untersuchen sollte. Die Schweizer Regierung lobbyierte erfolgreich, das Mandat landete bei den Eidgenossen und letzten Endes bei Knoepfel, der damals für ­Responsibility, einem Schweizer Asset Manager im Bereich von Development Investments, tätig war. Er selbst hatte bereits sein eigenes Beratungsunternehmen Onvalues gegründet.

Die 2004 erschienene Arbeit „Who Cares Wins“ war die Geburtsstunde von ESG, das sich als Konzept vom bislang dominanten SRI (Socially Responsible Investment) abspaltete. ESG war von Beginn an der Versuch, den bis dato schwammigen Definitionen von Ethik, Nachhaltigkeit oder Verantwortung zu entkommen und stattdessen die finan­ziellen Risiken von nicht nachhaltigen Unternehmensstrategien zu quantifizieren. Leicht war die Vermittlung dieses Konzepts nicht. „„Oft wird vergessen, dass es die ESG Bewegung war, die die Bedeutung von Corporate Governance als erste betont hat“, erzählt Knoepfel. „Gerade Governance ist mitunter schwer zu vermitteln, aber heute fester Bestandteil von Unternehmensanalysen.“

Die ökonomische Brille

An dieser Stelle könnte man dem Irrglauben verfallen, bei Knoepfel handle es sich um einen blauäugigen Idealisten, der dazu neigt, links, rechts und, wenn es geht, auch in der Mitte die Moralkeule zu schwingen. Das Gegenteil ist der Fall. Was ihn an SRI gestört hatte, war die Tendenz, Nachhaltigkeitsrisiken als nicht quantifiziertes Totschlagargument zu missbrauchen. „Man sollte dieses Thema jedoch immer durch eine ökonomische Brille sehen.“ Peilt man wirtschaftlich sinnvolle Ziele an, werden ESG-Kriterien nicht selten en passant erfüllt. Eine zynische These? Tatsächlich nicht. Man erinnere sich nur an den Ausstieg des norwegischen Staatsfonds aus der Ölindustrie. Nicht wenige Öko-Lobbyisten jubelten und führten die Desinvestition auf Druck seitens der Interessenvertretungen zurück. Tatsächlich handelte es sich um eine reine Risikominimierung, wie das Management des Fonds freimütig erklärte: Norwegen hatte über seine Beteiligung an Statoil ein hohes Exposure Richtung fossile Energieträger. Durch die davon unabhängigen Investments des Staatsfonds in global agierende Ölkonzerne war die Gewichtung der nationalen ­Investitionen insgesamt viel zu stark auf Energiewerte fokussiert, was zu entsprechenden Risiken führte. Die Desinvesti­tion wurde also aus national dimensionierten Portfolioüberlegungen getätigt, hat aber auch zu einer besseren Gewichtung der ESG-Kriterien geführt.

Kurzfristige Hürde

2004 war die Idee, ESG-Überlegungen in den Investmentprozess einfließen zu lassen, jedenfalls noch nicht wirklich ausgereift. Das lag nicht zuletzt an den Zeithorizonten, in denen gedacht wurde: Von Quartal zu Quartal zu kalkulieren war nicht nur anerkannte, sondern gewünschte Praxis. Dieses Abschnittsdenken schloss ESG-Integration faktisch aus, wie auch eine in „Who Cares Wins“ publizierte Umfrage (siehe Grafik „Zu kurz gedacht“) zeigt, in deren Rahmen Fonds­manager, Analysten und Investor Relations Manager danach gefragt wurden, ob CSR – also Corporate Social Responsibility – einen positiven oder negativen Einfluss auf den Marktwert eines Unternehmens haben würde. Die Frage wurde gesplittet: Zunächst wurde nach kurzfristigen und dann nach langfristigen Auswirkungen gefragt. Weniger als ein Drittel der Befragten glaubte, dass CSR kurzfristig positive Einflüsse haben könnte, mehr als die Hälfte ging von keiner Auswirkung aus, acht Prozent meinten gar, dass ein hohes Maß an CSR schädlich sei. Das Bild änderte sich, als man nach der langfristigen Per­spektive fragte: 78 Prozent gingen von einem positiven Stimulus auf den Marktwert aus; der Prozentsatz derer, die Schaden fürchteten, halbierte sich.

Genau das damals stärker ausgeprägte kurzfristige Denken machte eine Investition in CSR oder gar eine Berücksichtigung von ESG-Kriterien im Investmentprozess de facto sinnlos. Denn tatsächlich hatten die Befragten recht: Nachhaltige Kriterien wirken sich eben nur langfristig aus. Erst als sich der Fokus zu verschieben begann und nach der Finanzkrise wieder längerfristig gedacht wurde, begann sich die Perspektive laut Knoepfel zu verschieben. ESG-Analyse ist inzwischen zu ­einer eigenen Industrie geworden.

Wie bei allen Entwicklungen gibt es aber auch bei ESG Übertreibungen und Fehlentwicklungen. „Ich finde es nicht gut, wenn der Begriff zu weit gefasst wird“, erklärt Knoepfel. Wenn also einzelne Fondsmanager zu einem Ausstieg aus US-Bonds raten, weil das US-Budget die hausinternen ESG-Kriterien verfehlt, könnte das letzten Endes dazu führen, dass der Begriff irgendwann einmal inhaltsleer wird. Die Gefahr, dass Asset Manager die Idee als hohles Marketingkonzept verwenden und so die Glaubwürdigkeit von ESG-Strategien untergraben, sei immer noch hoch.

Das gelte nicht zuletzt für den institutionellen Bereich – paradoxerweise weil gerade Stiftungen, Family Offices oder Pensionsversicherungen seit jeher über längere Anlagehorizonte verfügen und deshalb als prädestinierte Käufer von ESG-Strategien gelten sollten. „Ich habe aber das Gefühl, dass die Fondsanbieter zunächst auf den viel größeren Retailmarkt schielen und dann oft einen unambitionierten Ableger für die institutionellen Kunden entwickeln, der oft preislich wie auch risikotechnisch einfach suboptimal ist“, meint ­Knoepfel. Dass ESG sich totgelaufen oder in eine falsche Richtung entwickelt hat, will er jedoch keinesfalls behaupten. „Ich kenne im Finanzbereich keine Idee, die so viel bewegt hat wie diese.“

Doch warum kennt man den Erfinder dieser Idee dann nicht besser? Wieso vermarktet er seine Autorenschaft nicht besser? Dass Knoepfel auf diese Frage nicht einmal mit den Schultern zuckt, sondern nur milde lächelt, lässt ahnen, welche Antwort kommen wird: „Ach, wissen Sie, ich empfinde die ­Erfindung eines Akronyms nicht so sehr als besondere Errungenschaft.“

Er wirkt stolz darauf, das Konzept auf den Weg ge- und andere Leistungen in dem Bereich erbracht zu haben: etwa bei der Implementierung der Sustainability-Indexfamilie von Dow Jones mitgearbeitet zu haben. Aber eine Abkürzung erfunden zu haben? Egal, ob sie geholfen hat, die Welt zu einem vielleicht besseren Ort zu machen? Uninteressant. Und überhaupt: „Akronyme? Mag ich eigentlich nicht besonders.“

Hans Weitmayr


Ivo Knoepfel frei assoziierend zu …

… ESG: „Finanziell relevante Investmentkriterien.“

… Profit: „Das Entgelt für eingegangene Risiken.“

… Grenzen: „Sie sind sehr real, weil wir auf einem Planeten leben, der ein geschlossenes System ­darstellt.“

… Plastik: „Ein riesiges Problem für die Weltmeere, aber weniger gravierend als die Klimathematik.“

… Feigenblatt: „Manchmal ein Problem beim ESG-­Investing.“

… 2028: „Da wird unser Energie- und Mobilitätssystem vollkommen anders aussehen, und das Klima wird da leider schon verrückt spielen.“

… EU: „Finde ich als Schweizer sehr wichtig, weil sie im Bereich Umwelt und Nachhaltigkeit eine wichtige Koor­dinierungsfunktion hat.“

… Strategie: „Die wichtigste Tätigkeit eines Investors.“

… Waffen: „Einerseits ein politisches Thema, andererseits etwas, das jeder Investor für sich selbst beantworten muss.“

… Akronyme: „Mag ich eigentlich nicht besonders.“


Lexikon: „Global Compact“

Global Compact oder auch United Nations Global ­Compact ist ein weltweiter Pakt, der zwischen Unternehmen und der UNO geschlossen wurde, um die Globalisierung ­sozialer und ökologischer zu gestalten. Am 31. Januar 1999 wurde der Pakt offiziell von UN-Generalsekretär Kofi Annan angeboten. Im Juli 1999 vereinbarten die internationale Handelskammer ICC und Kofi Annan eine enge Zusammenarbeit.

Die ICC gewann die ersten 50 multinationalen Unternehmen. Am 26. Juli 2000 wurde in New York die operative Phase gestartet.

Bis 2003 bestand der Pakt de facto nur aus Nicht-Finanzkonzernen. Annan war jedoch klar, dass der Finanzsektor einen bis dahin unterschätzten Einfluss auf Fragen der Nachhaltigkeit hatte. Die Involvierung der Finanzindustrie erhielt mit der Publikation des Reports „Who Cares Wins“ die Initialzündung. Die Erfindung des Begriffs ESG durch Autor Ivo Knoe­pfel gilt inzwischen als vielleicht wichtigstes Markenzeichen im Bereich des nachhaltigen Investierens. Dass der Begriff ESG diesem Dokument entspringt, ist landläufig eher wenig bekannt – Gleiches gilt für die Autorenschaft Knoepfels.


Kurzbiografie Ivo Knoepfel

Geboren: 1963 in Rom

Akademischer & beruflicher Werdegang:

1995: Doktorat Ingenieurswesen an der ETH; Umwelt- und Energietechnik; danach diverse Postgraduates
1995–1999: Swiss RE; zuletzt Head of Corporate Environ­mental Management & Climate Change Advisor; Implementierung von CSR- und Nachhaltigkeitskriterien
1999–2002: Leiter Rating- und Index-Research bei Robeco SAM; mitverantwortlich für die Lancierung der Indexfamilie Dow Jones Sustainability
2002–2005: Special Asset Manager für Responsibility im ­Bereich Mikrofinanz
2002–heute: Gründung und Managing Director von Onvalues
2004: Verfasst für die Vereinten Nationen die bahnbrechende ESG-Studie „Who Cares Wins“

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