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1/2025 | Produkte & Strategien

»­­­Optimal wäre ein misch­finanziertes Pflichtsystem«

Die bAV-Expertin Muriel Petersilie hat kürzlich an der Sheffield Hallam University (SHU) in ­Kooperation mit der Munich Business School (MBS) über betriebliche Altersvorsorgesysteme in Europa promoviert. Wir sprechen mit ihr darüber, was sich aus den anderen Ländern über die Altersvorsorge in unserem Land lernen lässt.

Dr. Muriel Petersilie: „Die bAV ist ein sehr komplexes Thema, wo Arbeitgeber gerade mittelständischer Unternehmen sowie auch die Mitarbeiter Unterstützung benötigen. Immerhin müssen sie eine für sie langfristige Entscheidung treffen.“ 
Dr. Muriel Petersilie: „Die bAV ist ein sehr komplexes Thema, wo Arbeitgeber gerade mittelständischer Unternehmen sowie auch die Mitarbeiter Unterstützung benötigen. Immerhin müssen sie eine für sie langfristige Entscheidung treffen.“ © CHRISTOPH HEMMERICH

Muriel Petersilie arbeitet bei Fidelity International in Kronberg im Team für betriebliche Vor­sorge. Dort kann sie ihre aus der Dissertation gewonnenen Erkenntnisse einbringen.

Frau Petersilie, Sie haben kürzlich Ihre Dissertation über Altersversorgungssysteme abgegeben und haben uns daraus als Extrakt zwei Altersversorgungssysteme in Form von Info-Kästen zur Ver­fügung gestellt. Welcher Fragestellung wollten Sie in Ihrer Dissertation auf den Grund gehen?

Dr. Muriel Petersilie: Ich habe mich bei meiner Dissertation auf die zweite Säule, also die betriebliche Altersversorgung, fokussiert und bin dabei vier Forschungsfragen nachgegangen: a) Was kann Deutschland von Frankreich und UK ­lernen, um die eigene Pensionslandschaft zu verbessern?

b) Was könnte die Rolle des Staates sein?

c) Was sind die ­Erwartungen von Mitarbeitenden im Hinblick auf betrieb­liche Altersversorgung?

Und d) Wie kann das Verständnis von Mitarbeitenden für die betriebliche Altersversorgung verbessert werden?

Wie sind Sie vorgegangen?

Dr. Muriel Petersilie: Meine Dissertation ist zweigeteilt. Ich habe den wissenschaftlichen Mixed-Methods-Ansatz gewählt. Das bedeutet, dass die Promotion sowohl einen quantitativen als auch einen qualitativen Part beinhaltet. Der quantitative Teil fokussiert sich auf den Ländervergleich von Deutschland, UK und Frankreich. Für den qualitativen Part habe ich offene Interviews mit 19 Mitarbeitenden aus dem Chemiesektor in Deutschland geführt. Der quantitative Part gibt den Kontext, mit dem qualitativen wollte ich sehen, ob meine Erkenntnisse aus dem quantitativen Part bestätigt und möglicherweise auch erweitert werden. Die Chemiebranche habe ich gewählt, weil man zum einen sein Thema eingrenzen muss und ich zum anderen diesen Sektor recht gut kenne. Die Chemie ist generell auch gut versorgt in Deutschland.

Können Sie eine allgemeine Aussage über den Zustand der Alters­vorsorgesysteme in Europa machen? Und was sind die drei größten Herausforderungen bei der Altersvorsorge in Europa?

Dr. Muriel Petersilie: Da ich nur einen kleinen Ausschnitt ­beleuchtet habe – und zwar vor allem im Rahmen der bAV und mit vordefinierten Indikatoren –, kann ich hierzu keine generelle Aussage treffen. Da ist weitere Forschung nötig. Aber ich sehe überall die Herausforderungen der demo­grafischen Entwicklung – also unten in der Pyramide weniger Beitragszahler und oben drohende Altersarmut, die ­übrigens zuletzt in Deutschland bei den über 65-Jährigen bei 19,6 Prozent lag.

Sie haben die Systeme in verschiedenen europäischen Ländern analysiert. Können Sie von jedem der untersuchten Länder einen Aspekt der Altersvorsorge nennen, der dort besonders gut gelöst ist und den man vielleicht in anderen Ländern übernehmen sollte?

Dr. Muriel Petersilie: Als positiv hervorheben möchte ich an den Systemen in Frankreich und in UK, dass beide misch­finanzierte bAV-Systeme haben und damit eben auch echte Arbeitgeberbeiträge. In Frankreich gibt es eine obligatorische zweite Säule: Arbeitnehmer werden automatisch für ein ­System angemeldet – es nennt sich Agirc-Arrco. Das heißt, ­sowohl Arbeitnehmer als auch Arbeitgeber zahlen ab Diensteintritt Beiträge in ein bAV-System ein.

In UK gibt es seit 2012 ein sogenanntes Auto-Enrolment (AE) System, das in etwa dem in Deutschland viel diskutierten Opting-out-Modell entspricht: Wenn Mitarbeitende mindestens 22 Jahre alt sind und mindestens 10.000 britische Pfund pro Jahr (zirka 12.000 Euro pro Jahr) verdienen, sind sie automatisch in einem bAV-System angemeldet. Der gesamte Mindestbeitrag beläuft sich auf acht Prozent des pensionsfähigen Einkommens, wobei der Arbeitgeber-Mindestbeitrag drei Prozent beträgt. Nach einem Kalender­monat kann ein Mitarbeiter rausoptieren.

Ein Arbeitgeber kann seinen Mitarbeiter jedoch nach drei Jahren wieder fragen, ob er es sich nicht noch einmal anders überlegen möchte. „Nudging“ (Schubsen) nennt man das in Großbritannien. Unter Berücksichtigung der kulturellen Gepflogenheiten könnte ein System wie in UK möglicherweise gut für Deutschland sein. Es ist nicht ganz so starr wie das französische und bietet mehr Variabilität.

Können Sie uns ein Element aus jedem der von Ihnen betrach­teten Systeme nennen, das sich als wenig praktikabel oder als überholungswürdig erweist?

Dr. Muriel Petersilie: Vielleicht ist das französische System ­etwas zu starr, um es eins zu eins auf Deutschland über­tragen zu können. Auch das Thema mit der Regelaltersgrenze ist meines Erachtens in Frankreich noch nicht final gelöst. In UK hat man erst nach zehn Jahren Beitragszahlung einen Anspruch auf eine Rente aus der ersten Säule. Das ist vielleicht etwas lang.

Was halten Sie im Altersvorsorgesystem in Deutschland für besonders gut gelöst, sodass man es eventuell in anderen Ländern übernehmen könnte?

Dr. Muriel Petersilie: Zum einen ist es gut, an die Selbstverantwortung der Bürger und Arbeitgeber zu appellieren, ­indem man sehr auf die Freiwilligkeit bei der Einrichtung eines Vorsorgesystems setzt (mal abgesehen von BRSG 1). Auch ist es gut, mehrere Optionen zu haben. In Deutschland gibt es immerhin fünf Durchführungswege zur Einrichtung einer bAV. Zum anderen ist es natürlich ein sehr komplexes Thema, wo Arbeitgeber gerade mittelständischer Unternehmen sowie auch die Mitarbeiter Unterstützung ­benötigen. Immerhin müssen sie eine für sie langfristige Entscheidung treffen. In Deutschland fällt auf, dass es in ­tarifgebundenen Branchen wie z.?B. der Chemie- oder ­Metallbranche gut funktioniert – warum nicht in anderen Branchen? Gibt es dafür vielleicht historische Gründe?

Welche Förderung für die zweite Säule der Altersvorsorge – die ­betriebliche Vorsorge – gibt es in den von Ihnen untersuchten ­Ländern?

Dr. Muriel Petersilie: Sowohl in Frankreich als auch in Großbritannien gibt es in der zweiten Säule mischfinanzierte Systeme mit echten Arbeitgeberbeiträgen, das heißt, die Beiträge sind gesplittet. Außerdem werden sie in beiden Ländern aus dem Brutto entrichtet, das heißt, auf den Teil fallen keine Steuern oder Sozialversicherungsbeiträge an. Außerdem können Unternehmen in beiden Ländern ihre Beiträge zu gewissen Teilen als Betriebsausgaben geltend machen.

Wie wird die private Vorsorge, also die dritte Säule, in den von ­Ihnen untersuchten Ländern gefördert?

Dr. Muriel Petersilie: In Frankreich gibt es in der dritten Säule das Modell PERCO (plan d’épargne pour la retraite ­collectif). Das ist eine Lösung, die es ermöglicht, während des Ruhestands ein zusätzliches Einkommen zu erhalten; möglicherweise mithilfe des Arbeitgebers und innerhalb günstiger steuerlicher und sozialer Rahmenbedingungen. Mit einem PER (plan d’épargne pour la retraite) können auch Selbstständige in Frankreich fürs Alter vorsorgen.

In UK zahlen Personen in der dritten Säule freiwillig Beiträge in private Vorsorgefonds. Insbesondere für Selbstständige ist diese Art der Rentenvorsorge wichtig, da sie weder staatliche Zusatz- noch Betriebsrenten ansparen können. Sie ­bekommen dann noch Steuererleichterungen. Das ebnet den Weg für neue Forschung: In einem weiteren Forschungsprojekt könnte man die private Altersvorsorge in verschiedenen Ländern vergleichen, um gegebenenfalls Rückschlüsse für Deutschland und Österreich ziehen zu können.

Wie geht man in den anderen Ländern mit der demografischen Entwicklung um? Das heißt, wie löst man die Herausforderung, Generationengerechtigkeit herzustellen?

Dr. Muriel Petersilie: Man versucht in beiden Ländern, das Rentenalter anzuheben, in Frankreich war beziehungsweise ist dies mit sehr viel Tumult verbunden, was ja auch durch die Presse ging. Da wurde monatelang gestreikt. In Frankreich wurde im Jahr 2023 die Regelaltersgrenze von 62 auf 64 angehoben. In UK liegt die Regelaltersgrenze derzeit bei 66 Jahren. Sie wird in den nächsten Jahren sowohl für Männer als auch Frauen schrittweise ansteigen, um dann zwischen 2044 und 2046 von 67 auf 68 Jahre anzusteigen.

Welche Anstrengungen werden unternommen, die Anzahl der Beitragszahler zu erweitern? Was ist beispielsweise mit der Ver­sorgung der Beamten? Haben diese ein gesondertes, privilegiertes System?

Dr. Muriel Petersilie: In Frankreich haben die Beamten wie in Deutschland ein gesondertes Rentensystem. In UK ähnelt die Versorgung der Beamten mittlerweile derjenigen der ­Privatwirtschaft.

Angesichts der demografischen Situation in fast allen westlichen Ländern ist es für Politiker nicht gerade attraktiv, sich um das ­Thema Altersvorsorge zu kümmern, denn meistens stehen unpopuläre Maßnahmen an: Erhöhung des Renteneintrittsalters, ­Anheben der Beiträge oder Absenken der Rente. Das überlässt man doch lieber seinem politischen Nachfolger. Sehen Sie ein ­Mittel gegen dieses Dilemma?

Dr. Muriel Petersilie: Mein Vorschlag wäre, zu diesem Thema ein Gremium wie die Wirtschaftsweisen einzurichten, das die Politiker berät – so wie es auch in Deutschland der Fall ist. In diesem Gremium sollten darüber hinaus Vertreter sein, die die Bedürfnisse der Arbeitnehmerseite verstehen und richtig kommunizieren.

Wenn Sie Sozialministerin wären, was würden Sie an den Altersvorsorgesystemen in Deutschland ändern?

Dr. Muriel Petersilie: Wenn ich Sozialministerin wäre, würde ich sofort ein verpflichtendes mischfinanziertes bAV-System einführen, und zwar flächendeckend, für alle Sektoren, nicht unterschieden nach tarifgebunden und nicht tarifgebunden. Dabei denke ich, dass ein nicht ganz so rigides System wie in UK mit der Möglichkeit des Opting out gut passen könnte. Das schon erwähnte „Nudging“ würde ich einführen. Schon in der Schule würde ich im Lehrplan verpflichtende Unterrichtseinheiten zu den Themen Rente, Versicherung und Aktien anbieten. Darüber hinaus würde ich mich dafür einsetzen, Komplexität aus dem Thema bAV herauszu­nehmen und neutrale Multiplikatoren einzusetzen, die das Thema der betrieblichen Altersversorgung verständlich ­erklären und den Menschen nahebringen. Bei solch einem komplexen Thema wie der bAV brauchen die Menschen Unterstützung und Orientierung.

Vielen Dank für das Gespräch und viel Erfolg bei der Vertei­digung Ihrer Dissertation!

Anke Dembowski

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