Logo von Institutional Money
2/2025 | Produkte & Strategien

„Europa muss Resilienz aufbauen“

Melanie Rama ist Head of Economic Research bei Baloise in Basel. Wir sprechen mit ihr über das aktuelle geopolitische und wirtschaftliche Geschehen und fragen nach, welche Auswirkungen dies auf die Kapitalanlage der Baloise-Gruppe hat.

„Was mich an der Rolle bei Baloise reizt, ist die Verbindung zwischen der volkswirtschaftlichen Analyse und den Finanzmärkten“, sagt Melanie Rama in unserem ­Gespräch. Das merkt man ihr an, denn die Bandbreite an praxisnahen Themen, die wir ansprechen, ist groß, und sie zögert nicht, ihre Meinung auszudrücken.
„Was mich an der Rolle bei Baloise reizt, ist die Verbindung zwischen der volkswirtschaftlichen Analyse und den Finanzmärkten“, sagt Melanie Rama in unserem ­Gespräch. Das merkt man ihr an, denn die Bandbreite an praxisnahen Themen, die wir ansprechen, ist groß, und sie zögert nicht, ihre Meinung auszudrücken.© Kyla ziemke

Ihre Einschätzung der geopolitischen und makroökonomischen Situation ist für die Kapitalanlage der gesamten Baloise-Gruppe ausschlaggebend. Seit 2022 leitet Melanie Rama, Head of Economic Research bei Baloise, die monatlich stattfindenden Meetings des Investmentkomitees der Unternehmensgruppe. Zu dem börsennotierten Konzern, der neben der Schweiz auch in Belgien, Deutschland und Luxemburg tätig ist, gehören neben der Lebens- und der Sachversicherung auch das Asset Management (institutionelle Vermögensverwaltung) sowie die Baloise Bank mit verschiedenen Vermögensverwaltungsaktivitäten – für Pri­vate-Wealth-Kunden, über die eigenen Fonds, bis zu institutionellen Kunden mit langfristiger Orientierung. „Bei den Meetings kommen monatlich alle Anlageklassenexperten zusammen und tragen ihre Ansichten über die Märkte und die geopolitische Situation zusammen“, erklärt Melanie ­Rama. Daraus wird dann eine konkrete Positionierung in Bezug auf die Assetklassen und die Regionen abgeleitet, ebenso eine Entscheidung, ob man gruppenweit mehr oder weniger Risiko nehmen will. „Zwingend ist diese Positionierung zwar nicht über alle Einheiten, aber eine starke Empfehlung“, meint Rama, konzediert aber: „Natürlich müssen einzelne Einheiten bestimmte regulatorische Anforderungen oder Nachhaltigkeitsrestriktionen einhalten und können ­daher abweichen.“

Eintönig wird es bei ihrer Arbeit nicht. „Es passiert immer etwas. Mal liegt der Fokus auf der Vermehrungsgeschwindigkeit eines Virus, mal geht es um geopolitische Krisen und mal um Zölle und Handelsbarrieren oder auch um Themen wie Globalisierung und die Resilienz von Produktionsabläufen oder – wie jetzt – um die Lockerung der Schuldenbremse in Deutschland“, beschreibt Rama, wie breit das Feld ist, das sie im Auge haben muss.

Bei der Kapitalanlage kommt alles zusammen

Zuvor war sie bei einer Beratungsfirma in London tätig und hat volkswirtschaftliche Analysen einzelner Regionen durchgeführt. „Was mich an der Rolle bei Baloise reizt, ist die Verbindung zwischen der volkswirtschaftlichen Analyse und den Finanzmärkten. Das umfasst nicht nur die volkswirtschaftliche Sicht, sondern auch die Marktimplikationen. Das ist wirklich spannend“, meint Rama. Das Gespräch fand ­übrigens am 9. April statt. Besonders gern beschäftigt sie sich mit Geldpolitik, was womöglich daran liegt, dass sie auch ­eine Zeit lang bei der Schweizer Nationalbank gearbeitet hat. „Dort habe ich mich in erster Linie mit Inflationsprognosen beschäftigt. Bei Baloise hat uns im Jahr 2022 das Thema des großen Inflationsanstiegs ebenfalls auf Trab gehalten“, schlägt Rama die Brücke zu ihrer jetzigen Tätigkeit.

Das Gespräch führen wir in einem hellen, freundlichen Besprechungsraum im Gebäude von Baloise, deren Wurzeln bis 1863 zurückreichen. Dabei handelt es sich um ein markantes Gebäude des Architekturbüros Diener & Diener (mehr Infos: www.baloisepark.ch), das gediegen, aber nicht monströs wirkt, in bester Lage unweit des Basler Bahnhofs SBB. Sie weist darauf hin, dass aktuell Donald Trumps Zollpolitik das Markt- und Börsenumfeld bestimmt, aber nervös wirkt sie dabei nicht, eher beobachtend, analysierend.

Inflation und Geldpolitik der Notenbanken

„Ökonomisch gesehen erhöhen Zölle die Inflation und dämpfen das Wirtschaftswachstum, da weniger Handel stattfindet und viel Unsicherheit geschürt wird, was die Investitionsbereitschaft dämpft. Daher sind Zölle grundsätzlich schlecht für die Weltwirtschaft. Die massive Zollerhebung wird die Inflation anheizen – insbesondere in den USA“, glaubt Rama. Trotzdem rechnet sie nicht damit, dass die ­Notenbanken die Zinsen anheben werden. „Dazu ist das wirtschaftliche Umfeld zu angespannt. In den letzten Jahren haben wir in Europa ein sehr schwaches Wachstum gesehen, vor allem in Deutschland. Dort gab es zwei Jahre lang negatives Wachstum und dieses Jahr Stagnation. Es wurde zwar über Reformen diskutiert, aber getan wurde am Ende wenig“, ist Rama kritisch.

Aber etwas Gutes kann sie den erratischen Nachrichten aus den USA sogar abgewinnen: Trump sei es gelungen, ­Europa wachzurütteln. „Zumindest kam jetzt überraschend schnell der Beschluss, dass Europa seine Rüstungsausgaben massiv erhöhen wird und dass Deutschland die Infrastruktur angehen und dazu die Schuldenbremse lockern will. Vor zwei Jahren hätte vermutlich niemand geglaubt, dass es so schnell gehen könnte!“, so Rama. „Europa befindet sich derzeit in einer schwachen wirtschaftlichen Situation. Neben der Inflationsentwicklung müssen die Notenbanken auch diese Tendenz im Auge behalten. Aktuell glaube ich, dass das Wachstumsrisiko das Inflationsrisiko überschattet“, ist ­Rama überzeugt. In der Schweiz sei die Inflation aktuell niedrig. „Hier liegen wir bei 0,3 Prozent für den März. Das liegt daran, dass der Franken in Krisenphasen aufgewertet wird, weil er als Safe Haven gilt“. Das lasse die Wahr­scheinlichkeit steigen, dass die Schweizer Nationalbank die Zinsen noch einmal senken wird. Für die Unternehmen ­bedeute die Einführung der Zölle, dass sie ihren Fokus stärker auf die Resilienz der Lieferketten legen und weniger auf die maximal günstigste Produktionsweise. „Bis dato wurden während des Fertigungsprozesses einzelne Teile fünf- oder sechsmal über die Grenze gefahren. Das geht dann nicht mehr, wenn die Zölle in dem Umfang erhoben werden, wie Trump das möchte.“ Auch die Neuausrichtung der Liefer­ketten werde die Produkte verteuern, also die Inflation ­steigen lassen.

Credit Spreads sind gestiegen

Angesichts von Trumps Außenhandelspolitik und der gegebenen finanzwirtschaftlichen Bedingungen hält sie US-Treasuries für Investoren aus Europa nicht mehr für attraktiv. „Das US-Zinsniveau ist mit etwa vier Prozent immer noch etwas höher als das in Europa und definitiv als das in der Schweiz; aber angesichts der Kosten für die Währungsab­sicherung lohnen sich US-Treasuries nicht mehr“, findet ­Rama. Ob das amerikanische Staatsdefizit weiter ansteigt, sei ­aktuell schwer einzuschätzen. „Im Wahlkampf hat Trump ­gesagt, dass er das Defizit runterfahren möchte. Möglicherweise will er das Defizit mit seiner Zollpolitik finanzieren, denn die Zölle stellen ja Staatseinnahmen dar. Auf der anderen Seite hat er auch Steuersenkungen versprochen. Ob sich mit den Zöllen beides finanzieren lässt, ist fraglich“, meint ­Rama.

Opportunitäten sieht sie statt in US-Treasuries eher im High-Yield-Bereich und in europäischen Anleihen. „Die ­Credit Spreads sind angestiegen. Daher sind die Einstiegsmöglichkeiten ein bisschen attraktiver geworden. Wir sind hier allerdings immer noch vorsichtig, weil wir noch weitere konjunkturelle Risiken am Horizont sehen“, erklärt Rama. Immerhin habe es aufgrund der fiskalpolitischen Ausrichtung in der EU und in Deutschland einen starken Anstieg bei den Renditen für deutsche Bundesanleihen gegeben.

Was Equities betrifft, sieht sie angesichts der Erhöhung der Verteidigungsausgaben, die EU-weit mindestens 800 Milliarden Euro betragen sollen, und der Lockerung der Schuldenbremse in Deutschland viele aussichtsreiche Investitionsmöglichkeiten in Europa. Neben der Defence-Branche könnten die Bereiche profitieren, die mit der Digitalisierung der Industrieprozesse zu tun haben. „Industrie 4.0 sozusagen. Dazu gehören Sensorik, Halbleiter, vielleicht auch Software, aber auch die Baubranche sowie Bauinfrastruktur“, meint ­Rama. Einen Schnellschuss erwartet sie hier jedoch nicht. „Das deutsche Infrastrukturprogramm in Höhe von 500 Milliarden Euro verteilt sich ja auf zwölf Jahre.“ Außerdem sei noch zu klären, wie man die benötigten Fachkräfte dafür bereitstellen will. „Hier sehe ich die Politik in der Pflicht, entsprechende Maßnahmen zu ergreifen, damit die angekündigten Vorhaben in die Tat umgesetzt werden können.“ Das ambitionierte europäische Paket in Bezug auf Infrastruktur und Rüstungsausgaben gehöre jetzt durch weitreichende Wirtschaftsreformen flankiert, um wirksam werden zu können. Es gelte, die Wettbewerbsfähigkeit der EU zu steigern und tatsächlich Bürokratie abzubauen. „Sonst mag das zwar schön klingen, aber hinsichtlich der Implementierung gibt es noch viele Fragezeichen“, ist Rama skeptisch.

Zumindest bei Baloise sei vom Bürokratieabbau noch nicht viel zu spüren. „Als relativ großer Versicherer mit 8.000 Mitarbeitenden und einem Geschäftsvolumen von 8,6 Milliarden Schweizer Franken 2024 gehören wir nicht zu den kleinen Häusern, für die gewisse Erleichterungen vorgesehen sind. Für uns gibt es eher zusätzliche Anforderungen, speziell im Reporting-Bereich“, zweifelt Rama, ob die Sache mit dem Bürokratieabbau in Europa klappen wird.

Mit einem Abebben der Regularienflut in der EU ist ­derzeit kaum zu rechnen. So soll 2027 etwa ein neues EU-Vermögensregister eingeführt werden, das zentral bei der EU-Behörde AMLA in Frankfurt geführt wird. Die Umsetzung werde aus Sicht von Baloise allerdings noch Zeit in Anspruch nehmen, und viele Details seien noch unklar. ­Viele der geplanten Regelungen bestätigten aber nur in Deutschland bereits bestehende Standards. Baloise geht davon aus, dass auch Altersvorsorgeverträge davon erfasst werden. Der Fokus der zukünftigen Behördenarbeit dürfte aber eher auf neuen Vermögensformen wie Kryptowährungen oder E-Geld liegen.

Übergewicht in Liquidität

Angesichts der vielen Fragezeichen hält Baloise aktuell ein Übergewicht in Liquidität. „Bei Aktien sind wir neutral und bei Fixed Income ein bisschen unterallokiert. Schließlich ­haben wir in den letzten Monaten auch in den Zinsmärkten viel Volatilität gesehen“, erläutert Rama, wobei sich das in den nächsten Wochen oder Monaten natürlich ändern könnte. Angesichts des teilweise hektischen Marktgeschehens („Gefühlt gibt es alle paar Jahre einen ganz neuen Schock, der auf uns zukommt“) findet sie ihren Ausgleich im Reformer Pilates, wofür sie drei- oder viermal in der ­Woche ins Studio geht. „Nebenher mache ich auch Fitness und bewege mich gern an der frischen Luft. Das bringt mir auch einen Ausgleich zur Arbeit, weil ich viel vor dem Bildschirm sitze, viel lese und Nachrichten konsumiere. Draußen in der Bewegung kann ich gut meinen Kopf lüften.“

In ihrem Arbeitsalltag nutzt sie bereits die Möglichkeiten der KI. „Ich habe beispielsweise einen Scheduled Task bei ChatGPT, der mir jeden Morgen ein News Briefing zu Themen erstellt, die ich vorher eingebe, zum Beispiel alles über Trump. Das nutze ich, um Nachrichten zu konzentrieren und zusammenzufassen.“ Das ersetze natürlich nicht alles. „ChatGPT nutzt ja nur öffentlich zugängliche Daten. Daher muss ich mir immer noch Bloomberg News anschauen und weitere Quellen wie Research von anderen Instituten.“ Dazu kommt der Austausch mit anderen Researchern und Volkswirten: „Der findet schon statt. Jeder hat ja so ein ­bisschen eine andere Spezialisierung. Da hilft ein gutes Netzwerk“, findet Rama.

­­Generationengerechtigkeit

Lösen müsse die Politik aber auch eine weitere Herausforderung: die der Generationengerechtigkeit. Bei allen Formen der Altersvorsorge gilt es zu entscheiden, wie viel man den Aktiven und wie viel den Ruheständlern zukommen lassen will. Aktuell wird der jüngeren Generation relativ viel zugemutet: Sie muss die Zinsen bezahlen, die durch die steigenden Schulden anfallen, den Berg an Rentnern aus der Babyboomer-Generation versorgen und gleichzeitig zum Aufbau einer eigenen Altersvorsorge beitragen. Hinzu kommen die erhöhten Lebenshaltungskosten, die alle zu tragen haben: Die Zeiten der Friedensprämie und der billigen Energie sind vorbei, und es gilt, sowohl in die Verteidigungsfähigkeit als auch in den Aufbau einer unabhängigen Energieversorgung zu investieren. „Die Generationengerechtigkeit gehört zu den großen gesellschaftlichen Fragen, und diesen Konflikt zu lösen, ist eine Sache der Politik. Versicherer und Pensionskassen können hier nur entsprechend der Vorgaben der Regulatoren und der Politik agieren“, sieht Rama die Versicherungsbranche hier nicht in der Verantwortung. Ohnehin habe sie in Bezug auf die Altersversorgung womöglich einen Schweizer Bias. „Ich glaube, die Menschen müssen ­zunehmend auch selber die Verantwortung übernehmen. Sich allein auf den Staat zu verlassen, geht sicher nicht mehr!“ Sie weiß allerdings, dass dies speziell für Politiker ein schwer zu lösender Konflikt ist: „Auf der einen Seite haben die Älteren einen hohen Anteil der Wählerstimmen. Auf der anderen Seite wächst die junge Generation heran, die ja auch wählen darf, und man muss ihr gute Perspektiven ­geben“, so Rama. „Belastet man sie zu stark mit Abgaben, ­arbeiten sie womöglich überwiegend nur noch in Teilzeit oder tragen sich gar mit Auswanderungsgedanken“, gibt ­Rama zu bedenken. „Hier muss der Staat handeln, um auch den Jungen gute Zukunftsaussichten zu geben. Am Schluss braucht es immer Menschen, um das Wirtschaftswachstum anzukurbeln.“

Regionale Vernetzung und Friendshoring

Auf die Frage, ob die Entwicklung künftig eher Richtung Globalisierung oder Richtung Deglobalisierung gehe, antwortet sie: „Ich glaube, den Höchstwert der Globalisierung haben wir hinter uns. Womöglich gehen wir eher Richtung regionale Vernetzung. Das Thema Friendshoring kommt wieder auf. Ich kann mir vorstellen, dass die Verbindungen innerhalb Europas stärker werden und dass sich auch China stärker mit anderen Ländern in Asien vernetzt.“ Europas Handelsströme seien allerdings weltweit so stark integriert, dass eine völlige Unabhängigkeit Europas illusorisch sei. „Insbesondere die Energieversorgung ist ein großer Punkt. In bestimmten wichtigen Sektoren wie Verteidigung und Infrastruktur kann ich mir allerdings vorstellen, dass wir deutlich mehr Unabhängigkeit anstreben und auch erreichen werden“, meint Rama.

Schon während der Pandemie sei die Anfälligkeit der komplexen globalen Lieferketten zutage getreten. „In strategisch wichtigen Bereichen, etwa bei der Medikamentenversorgung, muss es das Ziel sein, eine gewisse Unabhängigkeit und Resilienz zu erreichen.“ „Europe first“ möchte sie es nicht nennen, aber vielleicht „A stronger Europe“. „Wir müssen die Anfälligkeit für Schocks reduzieren, und wir sollten darauf hinwirken, gegenüber den geopolitischen Veränderungen gewappnet zu sein.“

Was die Anti-Woke-Kultur der USA betrifft, sieht sie diese Tendenz nicht nach Europa kommen. „Bei Baloise sind ­Diversität und Vielfalt Teil der Kultur, und zwar nicht nur in Bezug auf Gender, sondern auch auf Alter, Hintergrund und so weiter. Eine gelebte Vielfalt an Meinungen und Erfahrungen ist sehr wertvoll für Unternehmen.“ Bei Baloise lebt man das: Der neunköpfige Baloise-Verwaltungsrat zählt drei Frauen, und das Vorstandsteam von Baloise in Deutschland setzt sich aus fünf Mitgliedern zusammen, davon sind zwei weiblich. Eine Spitzenfrau ist von Baloise zur Finanzaufsicht gewechselt: Julia Wiens, die die Vorstandsressorts Lebensversicherung und Finanzen/Kapitalanlagen verantwortete, übernahm im Januar 2024 die Leitung des Geschäftsbereichs Versicherungs- und Pensionsfondsaufsicht bei der Bafin und folgte damit auf Dr. Frank Grund.

Anke Dembowski

Dieses Seite teilen