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2/2022 | Steuer & Recht

Schreckensszenarien

EIOPA und BaFin zwingen Versicherer dazu, in ihrer Planung Nachhaltigkeitsrisiken stärker zu ­gewichten. Ab 2022 müssen sie im „Own Risk and Solvency Assessment“ auch Klimawandelrisiko­szenarien berücksichtigen – teilweise bis zum Jahr 2100.

Mit einer neuen Szenariobetrachtung sollen die Versicherer die Widerstandsfähigkeit und Robustheit ihrer Geschäftsstrategien unter verschiedenen Entwicklungen von Klimawandelrisiken im Lauf der Zeit diskutieren und bewerten. Die Betrachtungszeiträume reichen teilweise bis ins Jahr 2100.
Mit einer neuen Szenariobetrachtung sollen die Versicherer die Widerstandsfähigkeit und Robustheit ihrer Geschäftsstrategien unter verschiedenen Entwicklungen von Klimawandelrisiken im Lauf der Zeit diskutieren und bewerten. Die Betrachtungszeiträume reichen teilweise bis ins Jahr 2100.

© Dominik Butzmann, thinglas | stock.adobe.com

Die Abbildung von Nach­haltigkeitsrisiken spielt im Versicherungsgeschäft eine zunehmend wichtiger werden Rolle, und das findet auch in der ­Weiterentwicklung des Solvency-II-Regelwerks besondere Beachtung. Im September 2021 unterbreitete die EU-Kommission Vorschläge dafür, wie es in der Risikobetrachtung von Versicherern weitergehen soll. Die Entwicklung findet in drei Bereichen statt:

• bei der Risikobetrachtung für Kapitalanlagen und Aktivitäten, die einen besonderen Einfluss auf ökologische oder soziale Ziele haben

• bei der Berücksichtigung von Naturkatastrophen-Wahrscheinlichkeiten in der Standardformel

• bei der Durchführung von Klimawandelszenarien im Orsa

„Orsa“ steht für „Own Risk and Solvency Assessment“, betrifft also die unternehmenseigene Risiko- und Solvabilitätsbeurteilung von Versicherungsunternehmen. Und die Orsa-Anpassungen wurden zeitlich vorgezogen. Diese Form der Risikoanalyse stellt die zweite Säule des Solvency-II-­Berichtswesens dar, während die Berechnung der Solvenzkapitalanforderung (Solvency Capital Requirement, SCR) die erste Säule ist.

„Orsa soll Impulse setzen, wie man sein Unternehmen richtig steuert. Es ist aber auch ein Aufsichtsinstrument, denn es stellt die Grundlage für den Dialog zwischen Aufsicht und Unternehmen dar“, ­erklärt Götz Treber. Er leitet das Kompetenzzentrum Unternehmenssteuerung und Regulierung sowie die Abteilung Finanzregulierung des Gesamtverbandes der Deutschen Versicherungswirtschaft e.V. (GDV).

Klimawandelrisikoszenarien

Bereits am 19. April 2021 hat die EIOPA eine Stellungnahme zu den neuen Orsa-Maßnahmen veröffentlicht, die von den ­nationalen Aufsichtsbehörden umzusetzen sind. „Die BaFin hat Ende 2021 ihre ­Anforderung formuliert“, erklärt Treber. „Mit Beginn des Jahres 2022 müssen Versicherer nun im Orsa auch Klimawandel­risikoszenarien berücksichtigen, denen sie kurz- und langfristig ausgesetzt sind oder ausgesetzt sein könnten“, so Treber. „Viele Versicherer werden als Zahlengrundlage für ihre Berichterstattung das Jahresende 2021 nutzen.“

Risiken durch den Klimawandel

Die EIOPA begründet die neuen Maßnahmen: Der Klimawandel stelle ein ernsthaftes Risiko für die Gesellschaft insgesamt dar – und daher auch für Versicherungs- und Rückversicherungsunternehmen. Die nachteiligen Auswirkungen der globalen Erwärmung auf natürliche und menschliche Systeme seien bereits heute sichtbar, und ohne weitere internationale Klimaschutzmaßnahmen würden die globale Durchschnittstemperatur und die damit verbundenen physischen Risiken weiter zunehmen, was das versicherungstechnische Risiko der Unternehmen erhöhen, sich auf die Vermögenswerte auswirken und ihre Geschäftsstrategien in Frage stellen könnte. Die extreme Trockenheit im Jahr 2018, die zu Ernteeinbußen von teilweise über 80 Prozent geführt hat, oder die Überschwemmungen im Ahrtal im Sommer 2021 hätten gezeigt, dass der Klimawandel real ist und Auswirkungen auf Versicherungen und die Volkswirtschaft insgesamt hat. Daher sollen Versicherer Klimawandelrisikoszenarien in ihre Systeme integrieren: ins Governance-System, das Risikomanagementsystem und in Orsa. Die Betrachtung soll dabei sowohl kurz- als auch langfristig erfolgen. Die kurzfristige Betrachtung berücksichtigt die physischen Risiken und die Übergangsrisiken, die bereits heute beobachtet werden können, etwa extreme Wetterereignisse, Überflutungen oder die Einführung einer Kohlendioxidsteuer. Für solche Betrachtungen hat die Versicherungswirtschaft seit jeher statistische Zahlen der Vergangenheit herangezogen und in die Zukunft projiziert.

Zwei Szenarien

Neu ist die jetzt eingeführte Szenario­betrachtung im Orsa, deren Ergebnisse dann Eingang in die Planungs- und Strategie­prozesse der Versicherer finden sollen. Mindestens unter folgenden zwei Szenarien sollen die wesentlichen Klimawandelrisiken betrachtet werden:

• Der globale Temperaturanstieg bleibt im Einklang mit dem Pariser Abkommen und den EU-Verpflichtungen unter 2 °C.

• Der globale Temperaturanstieg überschreitet 2 °C.

Die verschiedenen Zeithorizonte für die Szenarien, die von der EIOPA vorgegeben werden, sind teilweise deutlich länger als sonst im Orsa, wobei die längste Betrachtung bis zum Jahr 2100 reicht. „Dieser sehr lange Zeithorizont von knapp 80 Jahren war für die Branche tatsächlich eine Über­raschung. Ansonsten sprechen wir im Orsa über eine Handvoll Jahre, also über deutlich kürzere Zeiträume“, meint Dr. Linda ­Michalk, Referentin in der Abteilung Finanzregulierung und Orsa-Expertin beim GDV. Mit der Szenariobetrachtung sollen die Versicherer die Widerstandsfähigkeit und Robustheit ihrer Geschäftsstrategien unter verschiedenen Entwicklungen von Klimawandelrisiken diskutieren und bewerten.

Intellektuelle Herausforderung

Neu an der Regulierung ist die Koppelung der Risiken mit einem konkreten globalen Temperaturanstieg. „Dass wir uns als Branche mit dem Thema Klimawandel auseinandersetzen müssen, ist klar und nicht neu, aber die jetzt eingeführte Szenario­betrachtung ist intellektuell eine große Her­ausforderung“, meint Treber. „Die Versicherungshäuser müssen sich jetzt Gedanken machen, welche Klimaszenarien sie zugrunde legen, und anschließend herausfinden, welche Auswirkungen das jeweilige Szenario auf ihre Risiko- und Solvenzsituation, auf ihre Kapitalanlage, auf ihre Versicherungstätigkeiten und insgesamt auf ihre ­Geschäftssituation hat.“

Das Ergebnis der Überlegungen kann durchaus sein, dass die zugrunde gelegten Szenarien das jeweilige Haus nicht oder nur sehr wenig betreffen. „Allerdings ist es nicht damit getan, einfach zu erklären, dass man nicht explizit betroffen ist“, ergänzt Michalk, „in dem Fall fordert die Aufsicht, dass eine Begründung abgegeben wird. Die sollte dann ausführlich erfolgen.“

Proportionalität

Um den Bogen nicht zu weit zu spannen, müssen zwei Dinge gegeben sein: Materialität und Proportionalität. „Kleinere Versicherer oder solche, die keinen großen Risiken ausgesetzt sind, können auch bei den Klimawandelszenarien vereinfachte Verfahren anwenden“, betont Treber, „Unternehmen, die schlüssig darlegen können, dass sie nicht explizit betroffen sind, brauchen die Szenarien gar nicht erst durchzuarbeiten.“ Außerdem verlange die Aufsicht bei der Betrachtung bis zum Jahr 2100 keine jährlichen Analysen, sondern lediglich alle drei Jahre. Allerdings sollen die Versicherungsunternehmen auch mindestens alle drei Jahre überprüfen, ob zusätzliche Klimarisiken identifiziert wurden oder neue Methoden und Daten verfügbar sind.

Ohnehin scheinen die Aufseher bei der Szenariobetrachtung nicht von Anfang an einen perfekten Ansatz zu erwarten. „Es ist vielmehr ein gemeinsames Herantasten für alle Beteiligten, und 2022 ist eben der Startpunkt dafür“, dämpft Linda Michalk die Sorgen einiger Versicherer, ein perfektes Modell über 80 Jahre finden zu müssen. Der GDV sei hier auch als Verband unterstützend aktiv. Beispielsweise habe er ein Hintergrundpapier zum Thema ent­wickelt und gemeinsam mit der BaFin ein Webinar mit diesen Inhalten angeboten.

Letztlich geht es darum, dass die Unternehmen die wesentlichen Klimawandelrisiken in verschiedenen Szenarioanalysen identifizieren und entsprechenden Stresstests unterziehen. Das so ermittelte breite Spektrum an möglichen Ergebnissen gibt dann dem Unternehmensmanagement ein Gefühl für die Unsicherheiten des Klimawandels und einen groben Überblick über die möglichen Risiken, die sich daraus ­ergeben. „Dann können sich die Leitungsorgane Maßnahmen zur Minderung übermäßiger ungewollter Risiken überlegen und entsprechend die Weichen stellen“, meint Treber.

Daten, Daten, Daten

Als Datenlieferant für die Klimawandelszenarien bieten sich die Unternehmen an, die hier bereits in der Vergangenheit ein ­Geschäftsfeld gefunden haben. Der GDV bringt das NGFS (Network for Greening the Financial System) ins Spiel, ein Zusammenschluss von Zentralbanken und Aufsichtsbehörden, die auf freiwilliger Basis Best-Practice-Beispiele und Daten teilen, um zur weiteren Entwicklung des Umwelt- und Klimarisikomanagements beizutragen. „Das NGFS stützt sich auf Daten des Internationalen Klimarates IPCC“, erklärt Treber. Trotzdem bleibe die Datenbeschaffung für die langfristigen Betrachtungen eine ­Herausforderung. „Schon die Datenverfügbarkeit bis 2050 ist nicht einfach. Das gilt erst recht für Daten, die bis 2100 reichen sollen. Die gibt es derzeit allenfalls für physische Risiken wie Überschwemmungen und Stürme, aber noch nicht im Detail für Klimaszenarien“, so Treber.

Versicherer können Risiken

Ob sich Versicherer aufgrund der neuen Orsa-Anforderungen nun Sorgen machen müssen, sei dahingestellt. An und für sich sind Versicherer geübt darin, ein Preisschild auf Risiken zu kleben: Schließlich gehört es zu ihrem Geschäftsmodell, allgemeine Risiken wie Langlebigkeit, Pandemien und ­Naturkatastrophen zu bewerten, ebenso wie individuelle Risiken, z.?B. Krankheits- oder Verkehrsunfallswahrscheinlichkeiten, Invaliditätsrisiken etc. Neu ist, dass sie jetzt auch Preisschilder für spezifische Szenarien des Klimawandels entwickeln sollen, aber auch das haben Versicherer, die Naturkatastrophen versichern, bereits in der Vergangenheit getan. Was sie aber weniger freudig stimmt, ist, dass sich bereits weitere Eskalationsstufen in der Risikobetrachtung abzeichnen: von einer qualitativen Betrachtung über die Darstellung von Schwellen­risiken bis hin zu einer immer stärker quantitativ geprägten Betrachtung mit entsprechenden Maßnahmen. Noch ist es zwar nicht so weit, dass die gewonnenen Erkenntnisse über die Klimarisiken in die SCR-Berechnung einfließen, aber so mancher Versicherer befürchtet, dass es lang­fristig darauf hinauslaufen wird.

Auch die Banken

Insgesamt trifft die Entwicklung einer immer weiter ins Detail gehenden Klimarisikobetrachtung nicht nur Versicherer, sondern auch Banken. Von ihnen verlangt die Regulatorik die Einrichtung interner Prozesse zur Sicherstellung der Risikotragfähigkeit (Internal Capital Adequacy Assessment Process, ICAAP) und zur Sicherstellung ­einer angemessenen Liquiditätsausstattung (Internal Liquidity Adequacy Assessment Process, ILAAP). Für den aufsichtlichen Überprüfungs- und Bewertungsprozess (SREP) erhebt die Bundesbank jährlich zum Stichtag 31. Dezember Informationen zum ICAAP und ILAAP der Institute.

Aber trotz aller Befürchtungen angesichts der zunehmenden Komplexität klingen auch die Argumente der Regulierer überzeugend: „Was passiert, wenn eine große Flut kommt wie im Sommer in Deutschland? Wer trägt die finanzielle Last für Waldbrände in Australien oder Kalifornien? All dies hat gravierende ökonomische Konsequenzen, zum Beispiel wenn dadurch Vermögenswerte vernichtet werden und Gläubiger ihre ­Kredite nicht mehr bedienen können“, führt Dr. Sabine Mauderer, Mitglied des Vorstands der Deutschen Bundesbank, die Risiken des Klimawandels für die Banken vor Augen.

Fast noch dramatischer seien aber die transitorischen Risiken: „Welche Folgen hat es für Unternehmen und damit Banken, wenn Geschäftsmodelle plötzlich nicht mehr funktionieren, wenn der Klimawandel die Politik zu harten Maßnahmen zwingt? Irgendwann wird es solche politischen Entscheidungen geben, die Unternehmen dazu zwingen werden, ihre Geschäfte entsprechend anzupassen“, gibt Mauderer zu bedenken. Insofern wird wohl der Trend nicht aufzuhalten sein, dass die Nachhaltigkeitszahlenwerke immer weiter herunterdekliniert werden müssen. Ob dann trotz dieser ausdifferenzierten Risikobetrachtung am Ende nicht doch aus dem Bauch heraus entschieden wird, sei dahingestellt – dann aber immerhin auf Basis eines sehr detaillierten Zahlenwerks.

Anke Dembowski

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