Die digitale Sachwerte-Zukunft
Der Token-Markt ist gegenwärtig zwar noch exotisch klein, weist aber enorme Wachstumsraten auf. Grund dafür ist die Perspektive von All-in-Lösungen, die nicht zuletzt den Zugang zum komplexen und teils mit hohen Eintrittsbarrieren versehenen Sachwertemarkt erleichtern könnten.
Zugegeben, wahrscheinlich ist es nicht einmal eine Nische, in der sich der Markt für Token und Tokenisierung derzeit befindet. So schätzt man bei der Security Token Group, einem Consulter, der unter anderem die Marktbewegungen am Token-Markt verfolgt, dass die Kapitalisierung des Token-Sekundärmarktes Ende 2020 in den USA bei gerade einmal 366 Millionen US-Dollar lag.
Erstaunliches Wachstum
An dieser Stelle könnte man sich achselzuckend abwenden, „Peanuts“ murmeln und sich wieder auf etablierte Finanzmärkte konzentrieren – wäre da nicht eine zweite Zahl, nämlich die von Anfang 2020: Da lag dieselbe Kapitalisierung bei 60 Millionen Dollar. Das Marktvolumen hat sich also innerhalb von zwölf Monaten versechsfacht. Womit sich der Verdacht aufdrängt, dass es sich bei der Tokenisierung um einen gerade beginnenden Megatrend handelt – eine Meinung, die auch Christoph Urbanek, Partner in der international aufgestellten Anwaltskanzlei DLA Piper, teilt: „Unternehmen, die beispielsweise Security Token Offerings (STOs) durchführen wollen – also das Pendant zu einem IPO –, können derzeit noch vom First-Mover-Effekt profitieren.“
Der Hauptvorteil der Token sind die vielfältigen Einsatzmöglichkeiten, denn sie können mit weiteren zusätzlichen Rechten wie Vorkaufs-, Informations-, Genuss-, Mitbestimmungs- oder Kontrollrechten ausgestattet werden (zu Möglichkeiten und Ausgestaltungen siehe Grafiken „Was mit Token möglich ist – technisch und rechtlich“, „Wie ,Tokenisierung‘ in der Praxis funktioniert“ und „Wie sich Token im Finanzierungsuniversum einordnen lassen“).
Die vertragliche Abstimmung erfolgt nahtlos in Form von digitalen Verträgen (Smart Contracts) und ist somit besonders effizient. Die Anteile können in der Folge am Sekundärmarkt gehandelt werden. Im August 2020 wurde die erste digitale Wertpapierbörse von der britischen Aufsichtsbehörde FCA zugelassen. „Weitere werden folgen“, zeigt sich Urbanek überzeugt – und weist darauf hin, dass die Rahmenbedingungen für die „digitalen Wertspeicher, die verschiedene Rechte oder Ansprüche verbriefen, rechtlich mittlerweile auf sicheren Beinen stehen. Nach mittlerweile herrschender Ansicht stellen Token übertragbare Wertpapiere im Sinne des Kapitalmarktgesetzes dar: Je nach Finanzierungsvolumen ist ein Informationsblatt oder ein Kapitalmarktprospekt notwendig.“
Doch wo bestehen Anwendungsmöglichkeiten für Investoren? Laut Urbanek beispielsweise bei Immobilien, nicht zuletzt aufgrund ihrer „statischen Natur, weswegen Immobilienverkäufe bis dato meist sehr aufwendig waren. Eine Vielzahl von Akteuren wie Makler oder Notare sind bislang einzubinden – oft sogar mehrfach.“ Die fortschreitende Automatisierung bei Immobilienangelegenheiten auf Grundlage der Blockchain könnte hier zu deutlichen Effizienzgewinnen führen, da Security Token „die Zahl der nötigen Kontakte deutlich reduzieren und somit das Potenzial haben, den Finanzierungsprozess erheblich zu beschleunigen“, so der Spezialist für Digitalrecht.
Immobilien sehr geeignet
In ein ähnliches Horn stößt Cyrus de la Rubia. Laut dem Chefvolkswirt der Hamburg Commercial Bank eignen sich „Immobilien oder darauf basierende Wertpapiere grundsätzlich gut dazu, tokenisiert zu werden“. Der Experte ortet gewaltiges Potenzial: „Nicht zuletzt wegen ihres Volumens sollten Immobilien auf einem zukünftigen Markt für tokenisierte Vermögenswerte eine wichtige Rolle spielen, vielleicht sogar die wichtigste. Allein die Märkte der vier großen Euroländer Deutschland, Frankreich, Italien und Spanien kommen auf ein Bestandsvolumen von knapp vier Billionen Euro.“
Institutioneller Aspekt
Wenngleich der Markt derzeit de facto Privatanlegern vorbehalten ist, ortet der Banker Potenzial für institutionelle Investoren: „So sehen wir beispielsweise auch bei tokenisierten Immobilienanlagen zunehmend direkte und indirekte Anlagemöglichkeiten für professionelle Anleger, etwa über Fondsvehikel.“ Elektronische Wertpapiere könnten demnach Immobilienanlagen für alle zugänglicher und erschwinglicher machen, „auch für kleinere institutionelle Investoren“.
Einzelne Beispiele aus der Praxis gibt es bereits: So nutzte im Januar 2021 das deutsche Wohnungsunternehmen Vonovia erstmals die Blockchain für die Übertragung von Eigentumsrechten an einer digitalen Schuldverschreibung in Höhe von 20 Millionen Euro.
Pionierarbeit
Auch die Token-Plattform von area2invest hat bereits vorgemacht, wie die Zukunft von Immobilieninvestments aussehen könnte: So ermöglicht es der Emissionsmarktplatz seit 1. Juli 2020, über eine Blockchain-Anleihe Ferienimmobilien auf Mallorca mitzufinanzieren. Die angebotenen Schuldverschreibungen bieten Anlegern bei einer Mindestlaufzeit von fünf Jahren eine feste Verzinsung von 4,25 Prozent pro Jahr, ergänzt um eine variable erfolgsabhängige Komponente aus den Vermietungserlösen. Daneben erhielten die ersten 300 Anleger, die PALM Token für mindestens 1.000 Euro auf area2invest zeichneten, einen Gutschein in Höhe von 500 Euro. Dieser kann in den investierten Ferienimmobilien eingelöst werden. Das Projekt zielt also vorerst auf Privatanleger ab, zeigt aber das Gestaltungspotenzial für institutionelle Investoren auf.
Hochspezialisierte Schiffs-Token
Nicht nur der Immobiliensektor, auch andere Sachwertemärkte mit teils hohen und komplexen Eintrittshürden könnten über die Tokenisierung leichter erschlossen werden, wie weitere Fallbeispiele zeigen – wobei sich auch hier area2invest hervortut. Die Platform bietet seit November sogenannte Green Ship Token der Hamburger Reederei Vogemann an. „Beim Green Ship Token handelt es sich um ein digitales Wertpapier in Form von tokenisierten, qualifiziert nachrangigen Genussrechten“, erklärt Max Heinzle, CEO und Gründer von area2invest, „das gezeichnete Kapital wird zur Anschaffung von Handysize-Bulkern der neuesten Generation aufgewendet.“ Handysize-Bulker gehören zu den Allroundern in der Schifffahrt: Aufgrund ihrer Größe und ihrer technischen Ausstattung sind sie besonders flexibel im weltweiten Einsatz und können selbst Häfen mit mangelnder Infrastruktur anlaufen. Anders als ein Containerschiff, das feste Routen bedient, folgen Handysize-Bulker ihrer Ladung, sind dort im Einsatz, wo sie benötigt werden, und transportieren lose Güter wie Getreide, Kohle, Erze, Mineralien und andere Rohstoffe. Im Fokus stehen emissionsarme Handysize-Bulker, bevorzugt der Green-Dolphin-Klasse. Mit diesem hochspezialisierten Investment hofft man auf eine jährliche Verzinsung von zumindest acht Prozent auf das eingesetzte Kapital. Darüber hinaus erzielte Erträge werden zu 50 Prozent ausgeschüttet.
Der Warhol-Token
Investoren, die sich mittels Sachwerten von der Konjunktur abkoppeln wollen, können Token den Zugang zum Kunstmarkt erschließen – wie ein Beispiel rund um Andy Warhol zeigt: Auf der Finexity-Plattform können sich Investoren an Kunstwerken in Form von Investment-Token beteiligen. Das erste Objekt im Portfolio des Hamburger Fintechs war ein Künstlerexemplar von Andy Warhol und trägt den Titel „Vegetarian Vegetable“ aus der Serie „Campbell’s Soup II“ aus dem Jahr 1969. „Die Serie des Künstlers umfasst insgesamt zehn Werke der ikonischen Suppendosen, welche zu den bekanntesten Sammlungen der Welt wie zum Beispiel der Sammlung des Metropolitan Museum of Art (MET) in New York gehören“, zeigt sich Finexity-Gründer und CEO Paul Huelsmann euphorisch – vergisst aber nicht, auf den aus seiner Sicht „langfristigen Werterhalt und die wirtschaftlichen Entwicklungschancen“ hinzuweisen: „Betrachtet man die jährlichen Wachstumsraten des von Artnet erstellten ‚Andy Warhol Prints and Multiples Index‘, lässt sich erkennen, dass Werke von Andy Warhol den DAX mit einer annualisierten Performance von 9,17 Prozent in den letzten 20 Jahren deutlich outperformt haben.“
Risiken und Nebenwirkungen
Bei allem Optimismus: Das Terrain ist neu. Emittentenrisiken, technische und regulatorische Unwägbarkeiten lassen sich zum gegenwärtigen Zeitpunkt schwer bemessen. Auch dürften „die Emissionskosten eines tokenisierten Wertpapiers jetzt noch deutlich höher sein als bei klassischen Wertpapieren, weil hier gewisse Anfangsinvestitionen in Hard- und Software sowie Know-how notwendig sind“, räumt de la Rubia ein. Die Gesetzgebung für elektronische Wertpapiere ist zwar wie erwähnt auf dem Weg, klare Regelungen für die Identitäts- und Geldwäscheprüfung stehen jedoch noch aus. Zur Realisierung des zweifellos vorhandenen Potenzials wird es also ein elaboriertes Ökosystem brauchen, zu dem eine entsprechende Regulierung, eine allgemein anerkannte tokenbasierte Währung, Handelsplattformen und – im Immobilienbereich – idealerweise auch ein blockchainbasiertes Grundbuch gehören.
Hans Weitmayr