Institutional Money, Ausgabe 2 | 2023
V iele Jahre lang unterstellte man als Marktbeobach- ter und -teilnehmer, dass die Akteure an den Kapi- talmärkten grundsätzlich rational agieren. Man nahm an, dass sie die gleichen öffentlich verfügbaren Signale beobachten und verarbeiten, was ein hohes Maß an Infor- mationseffizienz bedeuten würde. Dass es diesen Homo oeconomicus nur in der Theorie geben kann, wissen Prak- tiker schon lange; wie rational oder irrational Marktteilneh- mer aber tatsächlich agieren, ist nicht einfach festzustellen. Erstens verfügen die Akteure keineswegs alle über den glei- chen Informationsstand, und zweitens interpretieren ver- schiedene Gruppen von Anlegern die verfügbaren Daten unterschiedlich. Im Ergebnis können unterschiedliche Anleger zu verschiedenen, teils sogar gegensätzlichen Ein- schätzungen kommen. Die Frage, weshalb die Unterschiede zwischen den Anlegergruppen mitunter so stark ausfallen, beschäftigt Verhaltensökonomen naturgemäß besonders. Eine verhaltenswissenschaftliche Erklärung für dauerhafte Meinungsverschiedenheiten besteht in der Annahme, dass sich bestimmte Anlegergruppen auf solche Informationen fokussieren, die ihre bereits vorher gefassten Ansichten bestätigen. Sie sitzen bildlich gesprochen in Echokammern, in denen sie sich überwiegend dem Widerhall der eigenen Einschätzungen aussetzen. Auf diese Weise werden ihre Mei- nungen bestätigt oder sogar weiter verstärkt. Es ist offensicht- lich, dass dadurch ein starker Bias verursacht werden kann, der einen erheblichen Nachteil bedeuten sollte. Schließlich sind die Märkte hochgradig kompetitiv. Es müsste also ein starker finanzieller Anreiz bestehen,möglichst objektive und realistische Einschätzungen über den Preis und den Wert sowie über die Chancen und Risiken von Wertpapieren zu treffen. Wenn bullische Anleger also bewusst oder unbe- wusst negative Informationen ignorieren, dürfte das früher oder später zu erheblichen Verlusten führen. Analyse von StockTwits Erstaunlich sind vor diesemHintergrund die Ergebnisse der Studie „Echo Chambers“, verfasst von Anthony Cookson, Joseph Engelberg und WilliamMullins. Die Autoren unter- suchen anhand eines umfangreichen Datensatzes das Verhal- ten von 400.000 Nutzern auf StockTwits, einem der weltweit größten sozialen Netzwerke für Anleger und Trader. Der Analyse liegen insgesamt 33 Millionen Beiträge und 14,3 Millionen Follower-Verbindungen zugrunde. Untersucht wurde der Zeitraum von Januar 2013 bis Juni 2020. Entscheidend ist dabei, dass StockTwits-Nutzer ihre Beiträge als bullisch oder bärisch markieren. Da sich zudem beobachten lässt, wem die einzelnen User folgen, können die Forscher messen, inwieweit sich die einzelnen Nutzer in den beschriebenen Echokammern bewegen. Das zentrale Ergebnis ist, dass sich die untersuchten Anleger tatsächlich auf Informationen fokussieren, die ihre vorherige Einschät- zung bestätigen. Selbst ernannte Bullen folgen demnach mit fünfmal höherer Wahrscheinlichkeit einem anderen User, der dieselbe Aktie bullisch sieht, als es bei selbst ernannten Bären der Fall ist. Die Autoren schreiben, dass diese Selekti- vität zu erheblichen Unterschieden in den personalisierten Newsfeeds von Bullen und Bären führt. Über einen Zeit- raum von 50 Tagen sehen Bullen demnach 62 mehr bulli- sche und 24 weniger bärische Nachrichten als Bären. Ein ähnliches Muster zeigt sich im gleichen Zeitraum bei den Gefällt-mir-Angaben: Bullen mögen 38 mehr bullische Nachrichten und zehn weniger bärische Nachrichten als Bären, so die Studie. Eine Studie verdeutlicht, dass die Märkte weit von der theoretischen Informations- effizienz entfernt sein dürften. Demnach betrachten manche Anleger von Vornherein nur Informationen, die ihren bestehenden Überzeugungen entsprechen. Gefangen in der Echokammer 138 N o . 2/2023 | institutional-money.com THEORIE & PRAXIS | Echokammern FOTO: © UNIVERSITY OF CALIFORNIA In Echokammern werden Meinungen bestimmter Anle- gergruppen bestä- tigt oder sogar weiter verstärkt. » Anleger fokussieren sich auf Informationen, die ihre vorherige Meinung bestätigen. « Joseph E. Engelberg, Professor of Finance, Rady School of Management an der University of California in San Diego
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