Institutional Money, Ausgabe 1 | 2025
gleichen Dynamik wie nach früheren Krisen.Wir beobach- ten eine Verlagerung von Wertschöpfung in den Dienstleis- tungssektor – aber nicht zu den produktiven Dienstleistun- gen wie in den USA – dort boomen IT und KI. Bei uns fin- det die Verlagerung in Richtung der körpernahen Dienst- leistungen statt. Dort sind die Produktivität und auch die Löhne niedriger. Das ist die eigentliche enorme Herausfor- derung, vor der wir stehen. Zumal gleichzeitig die Investitio- nen einbrechen. Hatte der Sachverständigenrat nicht schon im Jahresgutachten von 2023 der Entwicklung des Produktionspotenzials ein eigenes Ka- pitel gewidmet? Veronika Grimm: Und das nicht ohne Grund.Wir wollten da- rauf aufmerksam machen, dass das Wachstum des Produk- tionspotenzials durch den demografischen Wandel emp- findlich gedämpft wird. Die Babyboomer-Generationen ge- hen Stück für Stück in den Ruhestand, was das verfügbare Arbeitsvolumen reduziert. Wir haben schon damals argu- mentiert, dass vor allem privatwirtschaftlich und öffentlich mehr investiert werden muss, insbesondere in Forschung und Entwicklung, damit die Produktivität wieder anspringt und das Wachstum befördert wird. Im Jahresgutachten 2024 haben wir dann gesehen, dass eben genau das nicht passiert, dass die Investitionen vielmehr zurückgehen und die Aus- lastung des verarbeitenden Gewerbes abnimmt. Und dass sich die deutschen Exporte weniger dynamisch erholen als die Weltwirtschaft. Früher war das umgekehrt nach einer Krise. Aber könnte es nicht gerade deshalb sinnvoll sein, mit dem ge- planten Infrastrukturpaket jetzt sozusagen die Bazooka auszupa- cken, um dadurch eben genau ein Anschieben des Wirtschafts- wachstums zu erreichen? Veronika Grimm: Wahrscheinlicher ist leider, dass ein Großteil der neuen Spielräume im Kernhaushalt für weitere Sozial- ausgaben – wie die Mütterrente – und zur Aufrechterhal- tung und Schaffung neuer oder zusätzlicher Vergünstigun- gen und Subventionen eingesetzt werden. Das Sondierungs- papier hat da schon den Weg aufgezeigt: Mütterrente, Pend- lerpauschale, Subvention von Agrardiesel und die Redukti- on der Mehrwertsteuer in der Gastronomie. Dadurch mani- festieren sich die Ansprüche der Bürger gegen den Staat und die eigenverantwortliche Vorsorge – etwa für die Alterssiche- rung oder den Pflegefall – bleibt aus. Es wird also für künf- tige Bundesregierungen und vor allem für künftige Genera- tionen immer schwerer, von einem immer weiter steigenden Schuldenstand wieder herunterzukommen. Deutschland verliert dann seine Stellung als Stabilitätsanker innerhalb der Europäischen Union. Dadurch wird auch eine neue Staats- schuldenkrise in der Eurozone wahrscheinlicher. Sprechen Sie jetzt gerade die unmittelbare Reaktion der Zins- märkte an, wie sie gewissermaßen direkt im Anschluss an die Ver- kündung des milliardenschweren Infrastrukturpakets zu beobach- ten war? Veronika Grimm: Die Entwicklung der Zinsen ist ein Grad- messer für das Vertrauen der Marktteilnehmer in die Kredit- würdigkeit eines Landes, spiegelt aber auch Inflationserwar- Wirtschaftsweise und Energieexpertin Nach ihrer Promotion an der Berliner Humboldt-Universität im Jahr 2002 war Veronika Grimm an der Universidad de Alicante tätig und hat drei Jahre an der Universität zu Köln gearbeitet, wo sie sich bei Prof. Axel Ockenfels habilitiert hat. 2008 erhielt sie den Ruf an die Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürn- berg, wo sie bis 2024 als Professorin für Volkswirtschafts- lehre und Direktorin des Lehrstuhls für Wirtschaftstheorie tätig war. Seit April 2020 ist Grimm Mitglied des Sachver- ständigenrats zur Begutachtung der gesamtwirtschaftli- chen Entwicklung. Sie engagiert sich zudem in zahlreichen anderen Gremien, darunter die Expertenkommission zum Energiewendemonitoring beim Bundesministerium für Wirt- schaft und Klimaschutz (BMWK). Im März 2024 wechselte Grimm an die Technische Universität Nürnberg, wo sie die Professur für Energiesysteme und Marktdesign übernahm. 34 N o . 1/2025 | institutional-money.com THEORIE & PRAXIS | Veronika Grimm | Wirtschaftsweise FOTO: © CHRISTOPH HEMMERICH » Die Entwicklung der Zinsen ist ein Gradmesser für das Vertrauen der Marktteilnehmer in die Kredit- würdigkeit eines Landes. « Prof. Veronika Grimm, Technische Universität Nürnberg
Made with FlippingBook
RkJQdWJsaXNoZXIy ODI5NTI=